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Tiefe Wunden

Titel: Tiefe Wunden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nele Neuhaus
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waren. Die Baustelle der Wolfsschanze, Hitlers Hauptquartier im Osten, hatte den Tarnnamen »Chemische Werke Askania« gehabt, und niemand aus der Bevölkerung hatte geahnt, was sich in den dichten masurischen Wäldern unweit des Dörfchens Görlitz im Landkreis Rastenburg abspielte. Außenminister von Ribbentrop hatte tatsächlich ab Sommer 1941, als Hitler die Wolfsschanze bezogen hatte, einen Flügeldes Schlosses Steinort der Familie Lehndorff für sich und seinen Stab requirieren lassen. Käthe Kallweit aus Steinort hatte irgendeine Beziehung zu dem Schloss gehabt – womöglich hatte sie dort als Dienstmädchen gearbeitet – und ihrem Sohn in ihren Briefen vom alltäglichen Klatsch und Neuigkeiten berichtet. Unwillkürlich schauderte Pia bei der Vorstellung, wie die Frau vor gut fünfundsechzig Jahren an ihrem Küchentisch gesessen und diesen Brief an ihren Sohn an der Front geschrieben haben musste. Pia notierte sich ein paar Stichwörter und ihre Informationsquellen aus dem Internet, dann griff sie zum Telefon und wählte Miriams Handynummer.
    »Wie kriege ich etwas über gefallene deutsche Soldaten heraus?«, erkundigte sie sich nach einer kurzen Begrüßung bei der Freundin.
    »Zum Beispiel über die Kriegsgräberfürsorge«, erwiderte Miriam. »Wonach suchst du genau? Ach, ich muss dich warnen. Das Gespräch könnte teuer werden. Ich bin seit gestern Abend in Polen.«
    »Wie bitte? Was tust du denn da?«
    »Diese Goldberg-Sache hat meine Neugier geweckt«, gab Miriam zu. »Ich dachte, ich recherchiere mal ein bisschen vor Ort.«
    Für einen Moment war Pia sprachlos.
    »Und das heißt?«, fragte sie schließlich.
    »Ich bin in Wegorzewo«, sagte Miriam, »dem ehemaligen Angerburg am Mauersee. Der echte Goldberg ist hier geboren. Es hat Vorteile, wenn man polnisch spricht. Der Bürgermeister selbst hat mir das Stadtarchiv aufgeschlossen.«
    »Du bist ja total verrückt.« Pia musste grinsen. »Dann viel Erfolg. Und danke für den Tipp.«
    Sie klickte sich durch das Internet, bis sie auf einer Webseite mit dem Titel Weltkriegsopfer.deWeltkriegsopfer.de angelangt war. Dortgab es einen Link zur Gräbersuche online. Sie gab den vollen Namen des Ermordeten Herrmann Schneider sowie Geburtsdatum und -ort ein. Pia starrte wartend auf den Monitor. Sekunden später las sie mit Verblüffung, dass Herrmann Ludwig Schneider, geboren am 2. März 1921 in Wuppertal, Ritterkreuzträger, Oberleutnant und Staffelkapitän der 6. Staffel des Jagdgeschwaders 400, am 24. Dezember 1944 im Luftkampf bei Hausen-Oberaula gefallen war. Er hatte eine Focke-Wulf FW 190A-8 geflogen, seine sterblichen Überreste waren auf dem Hauptfriedhof in Wuppertal beigesetzt worden.
    »Das gibt’s doch wohl nicht«, rief sie und erzählte Ostermann, was sie soeben gefunden hatte. »Der echte Herrmann Schneider ist seit dreiundfünfzig Jahren tot!«
    »Herrmann Schneider ist ein ideales Pseudonym. Ein gebräuchlicher Name.« Ostermann runzelte die Stirn. »Wenn ich meine Identität fälschen wollte, dann würde ich mir auch einen möglichst unauffälligen Namen aussuchen.«
    »Stimmt.« Pia nickte. »Aber wie kam unser Schneider an die Daten des echten Schneider?«
    »Vielleicht haben sich die beiden gekannt, waren in einer Einheit. Als unser Schneider nach dem Krieg eine neue Identität brauchte, erinnerte er sich an seinen inzwischen gefallenen Freund und schlüpfte in seine.«
    »Aber was ist mit der Familie des echten Schneider?«
    »Die hatten ihren Schneider längst beerdigt, und damit war für sie die Sache erledigt.«
    »Aber das ist doch viel zu leicht herauszufinden«, zweifelte Pia. »Ich habe ihn in Sekundenschnelle gefunden.«
    »Du musst dich in die Zeit zurückversetzen«, entgegnete Ostermann. »Der Krieg ist vorbei, es herrscht Chaos. Ein Mann in Zivil taucht ohne Papiere bei den Offiziellen der Besatzungsmacht auf und behauptet, er heiße HerrmannSchneider. Vielleicht hatte er sich sogar den Wehrpass vom echten Herrmann besorgt. Wer weiß? Vor sechzig Jahren konnte man nicht absehen, dass man eines Tages per Computer Dinge in ein paar Sekunden finden kann, für die man früher einen Detektiv, sehr viel Glück und eine Menge Geld, Zeit und Zufälle gebraucht hätte. Ich hätte ganz sicher auch die Identität eines Bekannten genommen, über den ich etwas weiß. Nur für den Fall eines Falles. Außerdem hätte ich darauf geachtet, mich aus dem Licht der Öffentlichkeit fernzuhalten. Das hat unser Schneider getan. Er war sein Leben lang

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