Tiefe Wunden
daraus entstandenen Neuentwicklungen. Über hundert insgesamt. Scheint eine einträgliche Sache zu sein.«
Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl. »Ich hab Hunger. Soll ich uns einen Döner besorgen?«
»Ja, das wäre prima.« Pia widmete sich der nächsten Kiste. Die Kollegen von der Spurensicherung hatten sie mit der Aufschrift »Inhalt Schrank, unten links« gekennzeichnet, und sie enthielt einige Schuhkartons, die ordentlich mit Paketkordel zugebunden waren. Im ersten Karton befanden sich Reiseerinnerungen, Bordkarten für ein Kreuzfahrtschiff, Postkarten mit Motiven exotischer Länder, eine Tanzkarte, Menükarten, Einladungen zu Taufen, Hochzeiten, Geburtstagen, Beerdigungen und andere Andenken, die für niemanden außer Schneider irgendeinen Wert hatten. Der zweite Karton enthielt sauber gebündelte handgeschriebene Briefe. Pia schnitt das Band durch und faltete einen auseinander. Er war am 14. März 1941 geschrieben worden. Lieber Sohn , entzifferte sie mühsam die verblichene altmodische Handschrift, wir hoffen und beten jeden Tag, dass es dir gutgeht und dass du gesund und an einem Stück zu uns zurückkehrst. Hier ist alles so friedlich wie immer, alles geht seinen üblichen Gang, und man sollte kaum glauben, dass Krieg ist! Es folgten Berichte über Bekannte und Nachbarn, Alltägliches, das den Empfänger des Briefes wohl interessiert haben mochte. Unterschrieben war der Brief mit Mutter. Pia zog wahllos Briefe aus den Stapeln, Schneiders Mutter schien eine eifrige Schreiberin gewesen zu sein. Ein Brief steckte sogar noch im Umschlag. »Käthe Kallweit, Steinort, Landkreis Angerburg« war der Absender. Pia starrte auf den Briefumschlag, der an einen Hans Kallweit adressiert war. Diese Briefe kamen gar nicht von Schneiders Mutter! Aber weshalb hatte er sie dann wohl aufgehoben? Eine vage Erinnerung regte sich in ihr, ließ sich aber nicht greifen. Sie las weiter in den Briefen. Ostermann kam zurück, brachte Döner mit extra Fleisch und Schafskäse mit, den Pia neben sich auf den Tisch legte, ohne ihn anzurühren. Ostermann begann zu essen, und bald roch der ganze Besprechungsraum wie eine Dönerbude.
Am 26. Juni 1941 schrieb Käthe Kallweit an ihren Sohn ... hat der Schlageter vom Schloss dem Vater erzählt, dass ein ganzer Flügel für Ribbentrop und seine Leute requiriert worden ist. Er sagte, es habe etwas mit der Baustelle von der Askania bei Görlitz zu tun ... Dann war eine Passage von der Zensur geschwärzt worden. ... hat uns dein Freund Oskar besucht und deine Grüße ausgerichtet. Er sagt, dass er jetzt öfter hier in der Gegend zu tun hat und versuchen will, uns dann regelmäßig zu besuchen ...
Pia hielt inne. Vera Kaltensee hatte behauptet, Schneider sei ein alter Freund ihres verstorbenen Mannes gewesen, aber Elard Kaltensee hatte dazu nur »Dann stimmt das wohl« gesagt und seiner Mutter einen seltsamen Blick zugeworfen. Und Miriams Oma meinte sich zu erinnern, dass der falsche Goldberg früher Otto oder Oskar geheißen habe.
»Was sind das für Briefe?«, erkundigte sich Ostermann kauend. Pia nahm sich noch einmal den letzten Brief vor.
... hat uns dein Freund Oskar besucht ..., las sie. Ihr Herz begann, aufgeregt zu klopfen. Näherte sie sich dem Geheimnis?
»Herrmann Schneider hat ungefähr zweihundert Briefe von einer Käthe Kallweit aus Ostpreußen aufgehoben, und ich frage mich, weshalb«, sagte sie und rieb sich nachdenklich die Nasenspitze. »Angeblich ist er in Wuppertal geboren und dort zur Schule gegangen, aber diese Briefe kommen aus Ostpreußen.«
»Was denkst du?« Ostermann wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und kramte in seinen Schubladen nach einer Küchenrolle.
»Dass auch Schneider seine Identität gefälscht hat. Der falsche Goldberg hieß eigentlich Oskar und war auf der SS-Junkerschule in Bad Tölz.« Pia blickte auf. »Und dieser Oskar war wiederum ein Freund von Hans Kallweit aus Steinort in Ostpreußen, dessen Korrespondenz wir im Schrank von Herrmann Schneider gefunden haben.«
Sie zog Tastatur und Maus ihres Computers hervor. Bei Google gab sie die Stichworte ein, die sie in den Briefen gefunden hatte. »Ostpreußen« und »Steinort«, »Ribbentrop« und »Askania« und fand eine ausgesprochen informative Seite über das ehemalige Ostpreußen. Beinahe eine Stunde lang vertiefte sie sich in Geschichte und Geographie eines verlorenen Landes und stellte beschämt fest, wie rudimentär ihre Kenntnisse der jüngeren deutschen Vergangenheit
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