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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Erinnerung war wie eine große Leere.
    Manchmal zuckte er zusammen, Kristina Tacker und Ludwig Tacker befanden sich dicht hinter ihm.
    Eines Morgens, als er zur Bucht hinunterging, hörte er plötzlich Stimmen. Er folgte dem Geräusch, beugte sich über die Klippen und entdeckte ein braunes Mahagoniboot, das vor einer schmalen Landzunge im Südwesten vor Anker lag. Zwei kleine Jollen waren zum Land unterwegs. In den Booten befanden sich weißgekleidete Frauen mit großen Hüten und Männer in blauen Jacken. Die Männer ruderten. Er sah Flaschen im Boot. Die Frauen lachten. Ganz hinten in einer der Jollen saß ein Mann mit nach hinten gedrehter Sportmütze, der ein Instrument vors Gesicht hielt, vielleicht eine Art Kamera.
    Er eilte zurück und berichtete es Sara Fredrika. »Es scheinen Sommergäste zu sein«, sagte er. »Aber gibt es die hier? Ich dachte, sie hielten sich in Stockholm und an den Badestränden längs der Westküste auf. Und so spät, fast im Herbst?«
    »Ich habe einmal von einem Mann gehört, der mit einem Piano an Bord des Dampfschiffs Tjust aus Söderköping kam«, antwortete sie. »Es war immer Anfang Mai. Aus Stockholm hatte er das Piano mitgenommen und im Vorschiff festgezurrt. Die Männer hatten große Mühe, es an Bord einer Kuhfähre zu schaffen. Dann saß er draußen auf einer Insel und spielte und soff, bis in den September hinein. Dann fuhr er wieder nach Hause.«
    »Sie haben kein Piano dabei.«
    »Was haben sie hier zu suchen? Auf meiner Insel?«
    »Es ist nicht deine Insel. Und sie werden sich vermutlich nicht darum scheren, wenn jemand ihnen verbietet, an Land zu gehen.«
    Sie wollte protestieren, aber er unterbrach sie. »Sie werden wissen wollen, wer ich bin«, sagte er. »Ich darf nicht gesehen werden. Laut meinen Anweisungen darf meine Identität nicht enthüllt werden.«
    »Wie sollten sie wissen können, daß du ein anderer bist als der, der hier mit mir auf der Insel wohnt? Die Leute beurteilen einen danach, wie man angezogen ist. Nimm die Kleider meines Mannes.«
    Er hatte selbst schon daran gedacht. Sie nahm die Kleider aus einer Truhe, sie rochen muffig, nach altem Meer.
    »Du siehst aus, als hättest du sie geerbt. Du bist größer als er, aber nicht so breit.«
    »Ich leihe sie mir nur«, sagte er. »Wenn wir Halsskär verlassen, werde ich sie verbrennen.«
    »Ich will diese Menschen sehen«, sagte sie.
    »Du kannst nicht die Klippen hinaufsteigen.«
    »Wenn sie dort sind, wo du gesagt hast, gibt es ebene Felsplatten, auf denen ich gehen kann. Ich will diese Hüte sehen.«
    Als sie auf die Landzunge hinauskamen, war die Gesellschaft an Land gegangen. Sie hockten sich hinter einen Felsblock. Es brauchte einige Augenblicke, ehe er verstand, daß es um Filmaufnahmen ging, dieses Neue, das gekommen war, Menschen, die in flimmernden beweglichen Bildern herumstolperten, auf eine weiße Leinwand geworfen. Er versuchte, es Sara Fredrika flüsternd zu erklären, aber sie hörte ihm nicht zu.
    Der Mann hatte seine Kamera auf ein Stativ gestellt. Die weißgekleideten Damen sprangen auf den Klippen herum, als plötzlich ein Mann mit aufsehenerregendem Schnurrbart und weißgeschminktem Gesicht hinter einem Felsblock auftauchte und auf die Frauen zulief.
    Sara Fredrika bohrte die Nägel in seinen Arm. »Er hat einen Schwanz«, fauchte sie. »Aus der Hose kommt ein Schwanz hervor.«
    Lars Tobiasson-Svartman sah, daß sie recht hatte. Der Mann mit schwarzer Schminke um die Augen hatte einen künstlichen Schwanz. Die schreienden Frauen hoben ihre gefalteten Hände zu ihm empor und baten mit aufgewühlten Gesichtern um Gnade. Der Mann hinter der Kamera kurbelte fieberhaft, die Frauen schrien, aber ganz lautlos. Sara Fredri-ka erhob sich. Ihr Schrei klang wie ein Nebelhorn. Sie kreischte und fing an, Steine nach dem Mann mit dem Schwanz zu werfen.
    Lars Tobiasson-Svartman versuchte, sie zurückzuhalten. »Das ist keine Wirklichkeit«, sagte er. »Es ist nicht wahr, es geschieht nicht.«
    Er riß ihr einen Stein aus der Hand und schüttelte sie. »Das ist Theater«, sagte er. »Keiner hat etwas Böses im Sinn.«
    Sara Fredrika beruhigte sich. Der Mann hinter der Kamera hatte die Kurbel losgelassen und die Sportmütze wieder umgedreht. Die Damen betrachteten verwundert die beiden Gestalten, die hinter den Klippen hervorgekommen waren. Der Mann hatte den Schwanz abgenommen und hielt ihn wie einen Strick in der Hand. Von dem Lustschiff, das auf den Dünungen schaukelte, blitzte ein Lichtreflex

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