Tiefe
er sagte, bald, nicht sofort, er müsse erst mit seinen Berichten fertig sein.
»Warum können wir nicht aufbrechen? Warum wirst du nicht fertig?«
»Ich bin bald fertig. Es ist nicht mehr viel zu tun. Dann fahren wir los.«
Er stand auf und ging hinaus. Es war Herbst.
Ein paar Tage später: Nieselregen, Windstille. Er ging um die Schäre herum. Plötzlich hatte er die Eingebung, all diese Klippen seien wie in einem Archiv gesammelt. Wie Bücher in einer unendlichen Bibliothek. Oder wie Gesichter, die einst von kommenden Generationen hervorgeholt und betrachtet werden könnten.
Ein Archiv oder ein Museum, er konnte seine Eingebung nicht richtig deuten. Aber der Herbst näherte sich, bald würde dieses Archiv oder Museum seine Türen für die Saison schließen.
Die Nächte kamen mit Frost. In der Morgendämmerung des 9. Oktober begann das Kind zu schreien.
Am selben Tag kam Engla Wester zu den Außenschären gesegelt, um nach Sara Fredrika und dem Kind zu sehen. Sie war zufrieden, das Kind wuchs und entwickelte sich, wie es sollte.
Er begleitete sie hinunter zur Bucht, als der Besuch beendet war.
»Sara Fredrika ist eine gute Mutter«, sagte sie. »Sie ist stark, sie hat Milch im Überfluß. Außerdem wirkt sie froh. Ich sehe, daß du dich gut um sie kümmerst. Ich glaube, sie hat ihren Mann vergessen, den, der ertrunken ist.«
»Den vergißt sie nie.«
»Es kommt ein Tag, an dem die Toten uns den Rücken kehren«, sagte sie. »Das geschieht, wenn ein neues Geschöpf ins Leben eintritt. Nimm die Gelegenheit wahr. Laß keinen Abstand zwischen dir und dem Kind zu.«
Er schob das Boot hinaus, während sie das Segel hißte. »Wollt ihr den Winter über hierbleiben?« fragte sie.
»Ja«, sagte er. »Vielleicht aber auch nicht.«
»Was ist das für eine Antwort? Sowohl ja als auch nein und dazwischen ein Vielleicht?«
»Wir haben uns noch nicht entschieden.«
»Der Herbst kommt heuer früh über uns, das lesen die Alten an den Wolken und Winden ab. Früher Herbst, langer Winter, später Frühling. Wartet nicht zu lange mit dem Aufbruch.«
Er sah der Jolle nach, sah sie um die Landzunge herum verschwinden. In der Ferne hörte er seine Tochter schreien.
Englas Worte hatten bei ihm mit voller Kraft eingeschlagen. In seinem ganzen Leben hatte er die Abstände gesucht. Aber die Abstände zählten nicht, es war die Nähe, die etwas bedeutete.
Er sah ein, daß er Sara Fredrika über die Tatsachen aufklären mußte, daß er zu einer anderen gehört hatte, daß er von der schwedischen Seekriegsmacht gefeuert worden war und eines Tages vielleicht ganz ohne Geld dastehen würde. Erst dann würden sie von vorn anfangen, erst dann würden sie einen richtigen Reiseplan machen können.
Mit großer Mühe hatte er auf Halsskär seine Wände errichtet. Jetzt würde er sie einreißen, um zu entkommen.
Ein starkes Gefühl ergriff von ihm Besitz. Verwundert und verwirrt dachte er: Ich glaube, das Lot ist auf dem Boden angekommen.
Er hatte die Angewohnheit, die Tage damit zu beenden, daß er den Feldstecher nahm und auf die höchste Spitze kletterte. Es herrschte ein nordöstlicher Wind, frisch und böig. Er zog die Jacke dichter um sich und spähte zum Land hin.
Es kam eine Jolle da draußen über die Bucht gesegelt. Das Boot lag hoch am Wind, machte aber gute Fahrt. Es war ein fremdes Boot, das konnte er erkennen, ohne den Feldstecher zu benutzen. Es war länger als die Jollen, die von den Fischern im Schärenmeer benutzt wurden, und es hatte eine Kajüte.
Er hob den Feldstecher an die Augen und stellte die Schärfe ein.
In der Plicht saß eine Frau an der Pinne und lenkte das Boot geradewegs auf Halsskär zu. Die Frau war Kristina Tacker, seine Ehefrau.
Teil 10 DIE BOTSCHAFT ENGLAS
Er dachte, es wäre eine Sinnestäuschung. Aber das Boot war wirklich. Kristina Tacker segelte energisch, die Segel waren dichtgeholt. Sie war unterwegs nach Hals-skär, weil sie wußte, daß er sich dort versteckte.
Er suchte nach einem Ausweg. Aber es gab keinen. Er konnte nirgendwohin fliehen.
Er stürzte zur Bucht hinunter, als sie nur noch zwei Schläge zu kreuzen hatte. Die ganze Zeit suchte er nach einer Erklärung. Konnte er durch seine Karten Spuren hinterlassen haben? Nie hätte er sich vorstellen können, daß sie anfangen würde, sie zu deuten. Oder gab es jemanden, der ihm auf die Schliche gekommen war, der wußte, wo er sich befand?
Er hatte keine Antwort. Es gab keine.
Als er zum Ufer hinunterkam, war das Segelboot in
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