Tiefe
Loch.
»Wir können nicht im Wasser stehenbleiben. Es ist zu kalt.«
Wieder begann sie auf sein Gesicht einzuschlagen. »Hörst du nicht, was ich sage? Meine Tochter ist tot.«
»Sie war auch meine Tochter.«
»Sie war nicht deine Tochter. Du warst nie da, du hast sie damit empfangen, daß du dich von ihr fortgelogen hast. Und von mir und dir selbst und allem, woran ich glaubte.«
Ihr gingen die Worte aus, sie stand da, im Wasser, und kreischte.
Er sah vor sich, wie die Regale mit den Porzellanfiguren langsam eins ums andere umstürzten und wie die Figuren zu Staub zerfielen.
Vorsichtig führte er sie aus dem Wasser herauf. Ihre Verbitterung erschreckte ihn, aber mehr noch der unermeßliche Schmerz, den er ihr zugefügt hatte. Zum ersten Mal fühlte er sich völlig wehrlos ihr gegenüber. Diesmal würde er sich nicht retten können. Und Sara Fredrika würde ihm nicht zu Hilfe kommen, ihre Anwesenheit würde die Katastrophe auf die Spitze treiben.
»Erinnerst du dich an unsere Reise nach Oslo?« fragte sie. »An diesen Tag draußen auf Bygdey, der Uferrand, die Jungen, die nackt draußen im Wasser badeten, ein Bündel Luftballons, das sich losgerissen hatte und zum Himmel aufstieg?«
Er erinnerte sich, entschied sich aber dafür, es zu leugnen.
»Natürlich erinnerst du dich«, sagte sie. »Aber vielleicht sind auch deine Erinnerungen erlogen, vielleicht gibt es im Hirn eines verlogenen Mannes keinen Platz für echte Erinnerungen.«
»Ich erinnere mich vielleicht an die Ballons, aber vage.«
»Ich glaube, du erinnerst dich an alles. Vor allem mußt du dich daran erinnern, daß wir ein Kreuz in den Sand gemalt und gesagt haben, daß die Wahrheit immer das Wichtigste in unserem Leben sein sollte. Herrgott, ich habe es geglaubt, ich habe geglaubt, daß ich einen Mann gefunden hatte, der für sein Wort einstand.«
Eine Windbö zog vorbei, kühl, scharf. Beide froren so, daß sie zitterten.
»Wer bist du eigentlich?« fuhr sie fort. »Ich versuche zu verstehen, aber es gelingt mir nicht. Ich kann dich einfach nicht zusammenfügen, das Bild bekommt Risse, du bist nur ein ungreifbares Wesen, das sich vom Betrug ernährt.«
»Ich werde es erklären.«
Ihre Antwort kam ohne Zögern. »Wenn du etwas nicht kannst, dann ist es zu erklären. Ich bin deinen Fußspuren gefolgt, und es war, wie in einen Brunnen hinunterzuklet-tern, wo der Gestank vom Boden immer beißender wird. Ich habe erkannt, daß ich mit einem Mann verheiratet bin, den es nicht gibt, einem Schatten, der einen Blutkreislauf und ein Gehirn hat, der eigentlich nur eine Erfindung ist, eine Einbildung. Es ist ein ganz unerträglicher Gedanke, daß mein Kind ein erfundenes Wesen zum Vater hatte. Kannst du mir helfen zu verstehen? Ich bin dabei, den Verstand zu verlieren.«
»Ich muß erfahren, wie du mich finden konntest.«
»Ich komme her und sage, daß Laura tot ist. Du reagierst nicht, du sagst, daß du trauerst, aber das einzige, was du suchst, ist eine Erklärung dafür, wie ich dich gefunden habe.«
»Du kannst glauben, was du willst, aber ich trauere um mein Kind.«
»Du solltest darüber trauern, daß du der bist, der du bist. Es war mein Vater, der mir half. Nach Lauras Tod nahm er Kontakt mit dem Marinestab auf und erzählte, was geschehen war. Er durchbrach alle Barrieren, ich kann seine Stimme hören: Ein Kind ist gestorben, mein Enkelkind. Sein Vater ist in einem geheimen Auftrag unterwegs, aber er muß natürlich von dem Trauerfall benachrichtigt werden, der ihn betroffen hat. Es wurde ganz still. Mein Vater erzählte, daß es war, als würden alle nur staunen. Das gesamte schwedische Oberkommando der Flotte war fassungslos. Schließlich klärte ein Vizeadmiral meinen Vater darüber auf, daß du nicht mehr in der Marine tätig warst. Aber dann taten sie geheimnisvoll, man könne die Ursachen nicht offenlegen, nur daß du aus den Gehaltslisten gestrichen warst. Mein Vater drängte darauf, daß ich persönlich eine Erklärung bekommen sollte. Am nächsten Tag begleitete ich ihn zum Skeppsholmen. Der Vizeadmiral war da und andere Personen, von denen ich nicht mehr weiß, wer sie waren. Sie boten mir einen Stuhl an, sie sprachen mir ihr Beileid aus. Aber als ich verlangte, deine Adresse zu bekommen, damit ich dir einen Brief schreiben könnte, sagten sie, daß sie keine hätten. Die Adresse war nicht geheim, es gab sie einfach nicht. Dich gab es nicht. Mein Vater war bei mir, er stand hinter dem Stuhl und legte mir die Hand auf die
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