Tiefe
wußte.
Plötzlich begann er zu weinen, verzweifelt, hemmungslos. Und hörte auf, genauso plötzlich, wie er angefangen hatte.
Spät am Nachmittag hörte er, wie sie nach ihm riefen. Er kehrte zurück, in der Überzeugung, einen Sohn bekommen zu haben. Aber Engla Wester hielt ihm eine Tochter hin. Diesmal fand er nicht, daß der Säugling einem Pilz gliche, möglicherweise aber der farblosen Heide im Frühling.
»Sie ist gesund und kräftig. Sie wird leben, wenn Gott es will und wenn ihr euch gut um sie kümmert. Wenn ich es richtig schätze, wiegt sie ein bißchen über drei Kilo.«
»Wie geht es Sara Fredrika?«
»Wie es einer Frau nach der Geburt geht. Große Erleichterung, Freude darüber, daß alles gutgegangen ist, eine unendliche Lust zu schlafen. Aber zuerst soll sie ihren Mann sehen.«
Sie gingen hinein. Die Magd und Engla ließen sie allein.
Ihr Gesicht war bleich und verschwitzt. »Wie soll sie heißen?«
Ohne zu zögern, erwiderte er: »Laura. Ein schöner Name. Laura.«
»Jetzt ist sie geboren, jetzt können wir diese höllische Schäre verlassen und niemals wiederkommen.«
»Wir fahren los, sobald ich meine letzten Berichte fertiggestellt habe.«
»Freust du dich über dein Kind?«
»Ja«, antwortete er. »Ich bin unsagbar froh über mein Kind.«
»Du hast eine Tochter statt der bekommen, die den Abhang hinuntergestürzt ist.«
Er antwortete nicht, nickte nur. Dann ging er hinaus und kredenzte Engla und der Magd einen Trunk zur Feier der Geburt. Da es schon spät war, blieben sie bis zum folgenden Tag.
In dieser Nacht schlief er unter dem Ölmantel in einer Kluft.
Er dachte an seine beiden Töchter, die beide Laura hießen. Laura Tobiasson-Svartman.
Die jüngere Schwester von Laura Tobiasson-Svartman. Sie werden ihr Leben ohne Wissen voneinander leben. Genau wie sich ihre Mütter niemals begegnen werden.
Ein paar Tage nachdem Sara Fredrika niedergekommen war, machte Lars Tobiasson-Svartman bei den Klippen an der östlichen und äußersten Landzunge von Halsskär einen eigentümlichen Fund.
Er bemerkte, daß genau am Klippenrand etwas im Wasser schaukelte. Als er sich hinunter zum Wasser begeben hatte, sah er, daß es mehrere Soldatenstiefel waren, zu einem Bündel verknotet. Sie waren getragen und hatten lange im Wasser gelegen. Er versuchte eine Inschrift zu finden, die ihm sagen könnte, ob er deutsche oder russische Stiefel vor sich hatte, fand aber nichts, was ihre Identität verriet.
Es waren neun Stiefel, vier linke Schuhe, fünf rechte. Jemand hatte sie zusammengeknotet und auf dem Meer forttreiben lassen. Er warf die Stiefel hinaus auf die Klippen.
Es war, als wäre er erneut von den Toten überrascht und herausgefordert worden.
ihre Tochter schrie viel und hielt sie nachts wach. Für Lars Tobiasson-Svartman war es, als wäre er einem brennenden Schmerz ausgesetzt. Er schnitzte Korken zurecht, die er sich in die Ohren steckte, wenn Laura am schlimmsten schrie, aber nichts schien zu helfen. Sara Fredrika war immun gegen das Schreien, mit Neid sah er ihre Liebe. Ihm selbst fiel es schwer, mit dem Kind eine Zusammengehörigkeit zu empfinden.
Aber mit Sara Fredrika war es, als würde er endlich verstehen, was Liebe ist. Zum ersten Mal in seinem Leben verspürte er Angst davor, verlassen zu werden. Ihn schreckte der Gedanke daran, was geschehen würde, wenn Sara Fredrika erkannte, daß es keinen Reiseplan gab. Daß nichts anderes existierte als die Schäre und ständig neue Berichte, die an eine geheime Behörde geschickt werden mußten.
Sara Fredrika nahm jede Gelegenheit wahr, um vom Aufbruch zu reden.
Mittlerweile lösten ihre Fragen in ihm eine tiefe Verzweiflung aus. Er wollte seine Ruhe haben, er wollte nicht an die Zukunft denken.
»Ich habe Angst«, sagte sie. »Ich träume vom Wasser, von den Tiefen, die du auslotest. Aber ich will nicht dahin. Ich will Laura aufwachsen sehen, ich will fort von dieser Höllenschäre.«
»Wir werden weggehen. Bald. Aber nicht sofort.«
Es war Vormittag, die Tochter schlief. Es regnete.
Sie sah ihn lange an. »Ich sehe dich nie dein Kind berühren. Nicht einmal mit den Fingerspitzen.«
»Ich traue mich nicht«, sagte er schlicht. »Ich habe Angst, daß meine Finger Male hinterlassen.«
Darauf sagte sie nichts mehr. Er balancierte weiter auf der unsichtbaren Grenzlinie zwischen ihrer Unruhe und Zuversicht.
Anfang Oktober merkte Lars Tobiasson-Svartman, daß Sara Fredrika allmählich die Geduld verlor. Sie glaubte ihm nicht, wenn
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