Tiefe
taufte sie in Gedanken auf Sara Fredrika Kristina. Aber er konnte sie nicht in den stillen Räumen der Wohnung auf der Wallin-gata sehen. Er konnte sie nicht in einem langen Rock sehen, mit schmalen Fingern die Porzellanfiguren umstellend. Er konnte sie nicht mit hochgebundenem Rock in der Diele von ihm Abschied nehmen sehen, wenn er zu einer seiner Expeditionen aufbrach.
Sie nicht in sein Leben einfügen zu können regte ihn derart auf, daß er zu keuchen begann. Er zog sich aus dem Gebüsch zurück und lief hinauf zu einer Klippe, wo das Meer offen vor ihm lag und der Wind stärker war.
Er dachte an das, was er ihr am Vorabend erzählt hatte, von der Frau und dem Kind, die tot waren. Wenn er seinen Vater angelogen hatte, war ihm stets übel geworden, oder er hatte Durchfall bekommen. Der Schrecken steckte im Bauch, er versuchte immer, durch die dunklen Gänge der Gedärme zu flüchten.
Aber jetzt? Kristina das Leben genommen zu haben, ohne daß sie es wußte, war wie ein eigentümlicher Triumph.
Er betrachtete die Blenda, die da draußen auf den Wellen ritt. Für einen Moment dachte er sich das Schiff weg. Kein Leutnant Jakobsson, keine Besatzung, das Meer leer, die Fahrwasser sinnlos. Alles, was existierte, waren die Klippe und Sara Fredrika. Aber es ging nicht, das Schiff oder den Kapitän oder die Fahrwasser wegzudenken, es ging nicht, sich selbst wegzudenken.
Er stieg wieder hinunter zum Pfad, trat fest mit den Stiefeln auf die Steine, weil er sie nicht überraschen wollte. Als er ankam, merkte er plötzlich, wie schmutzig ihr Rock war. Der Dreck bildete Schichten darauf. Das Licht war jetzt heller, nachdem die Wolken davongetrieben waren, der Schmutz war nicht zu verbergen. Er sah, wie schmuddelig und klebrig von Fett und Meersalz ihre Haare waren, die Hände waren schwarz, sie hatte dunkle Streifen am Hals. Aber sie hat sich doch gewaschen, dachte er verwirrt. Ich habe sie nackt gesehen. Der Dreck muß woandersher kommen.
Sie hatte den Schöpfeimer weggelegt und war aus dem Boot gestiegen. Als er sich ihr näherte, nahm er auch wahr, daß sie nach allem roch, was ungewaschen war, nach Schweiß und Urin. Warum hatte er das nicht im Haus bemerkt ? Warum jetzt, hier draußen?
»Das war kein langes Unwetter«, sagte sie fröhlich. »Der Sturm war ungeduldig.«
»Es heißt, daß es drei Tage lang stürmen soll«, sagte er. »Drei Tage, damit der Sturm sich als Sieger ausrufen kann.«
Ich rede Blödsinn, dachte er. Ich weiß nichts von einem dreitägigen Unwetter, ich weiß nicht, was man von einem Sturm glauben oder nicht glauben soll.
Angelhaken mitsamt dem Köder ausspuckt, den er im Maul probiert hat.
Sie ging hinauf zum Haus und holte seinen Ölmantel. Er machte die Fangleine los, das Boot schrammte über die Steine, und er sprang hinein.
Es gibt immer noch eine Möglichkeit, dachte er, einen Augenblick, in dem sich alles verändern wird. Ich kann ihr gestehen, daß das, was ich gestern gesagt habe, eine Lüge war.
Aber er sagte natürlich nichts. Sie blieb am Strand stehen und sah ihm nach.
Sie hob kein einziges Mal die Hand, sie winkte nicht. Wie wenn man ahnt, daß derjenige, der sich davonmacht, nicht mehr wiederkehren wird, dachte er.
Er wußte nicht, ob er wegruderte oder ob er nur einen Umweg nahm.
Die Tage wurden kürzer, dunkler, die See wurde immer unruhiger.
Ein einsamer Seehund schwamm eines Nachmittags vorbei, unterwegs zu fernen Gründen. Die Vögel zogen gen Süden, vorwiegend in der Dämmerung.
Lars Tobiasson-Svartman setzte das Wort Kapitel in seinen privaten Aufzeichnungen über die verschiedenen Etappen der Seevermessungsaufträge. Jetzt würde das Kapitel im Gebiet von Sandsänkan und Halsskär bald abgeschlossen sein. Die neue Fahrrinne sollte das nord-südliche Fahrwasser um eine gute Seemeile verkürzen. Außerdem würden die Schiffe früher in die inneren Schären gelangen, wo sie vor tückischen Treibminen oder Angriffen von U-Booten sicher waren.
Der Auftrag hatte bisher unter einem glücklichen Stern gestanden. Abgesehen von dem unerwarteten Felsrücken waren die Vermessungen erstaunlich gut verlaufen.
Es gab jedoch etwas, was Lars Tobiasson-Svartman beunruhigte. Als er nach dem Sturm zum Schiff zurückgekehrt war, hatte Leutnant Jakobsson seinen Unmut über die Abwesenheit nicht verborgen. Er war sichtlich unwirsch, grüßte kaum und stellte keine Fragen über die Nacht auf der Schäre. Lars Tobiasson-Svartman dachte zunächst, es sei eine vorübergehende
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