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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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verstanden, daß sie das gemeint hatte, als sie die Felle auf dem Boden ausbreitete. Vielleicht erwartete ihn etwas in diesem morschen Häuschen, was er sich nie hätte vorstellen können.
    Mit Entsetzen dachte er an seine und Kristina Tackers Hochzeitsnacht. Sie hatten sie im Hotel verbracht, in einer der Suiten des Grand Hotel, die Kristina Tackers reicher Vater bezahlt hatte. In der Dunkelheit hatten sie nacheinander getastet und versucht, der Angst vor dem, was sie erwartete, zu entfliehen. Die einzige Erfahrung, die er mitbrachte, waren ein paar abgegriffene und beschädigte Photos, die heimlich in den verschiedenen Messen herumgereicht wurden, Bilder, die in französischen Photoateliers aufgenommen waren. Sie zeigten fette Frauen, die in einem Raum mit ausgestopften Löwenköpfen an den Wänden ihre Beine spreizten und die Münder aufrissen.
    Außerdem hatte er eine Nacht der Demütigung in einem schmutzigen Zimmer in Nyhavn erlebt. Er hatte als Kadett an Bord des alten Panzerschiffs Loke gedient, das bald abgewrackt werden sollte und der Kopenhagener Marine einen Besuch abstattete. Eines Abends hatte er Freiwache und betrank sich zusammen mit dem ersten Offizier und einem Flaggsteuermann in den Bars am Hafen. In der Nacht hatte er die anderen verloren und war in einem Zimmer bei einer zahnlosen alten Hure gelandet, die ihm die Hosen herunterriß und ihn höhnisch hinauswarf, als alles vorbei war. Anschließend hatte er sich in den Rinnstein übergeben, ein paar dänische Straßenjungen hatten ihm seine Mütze gestohlen, und dafür hatte er am folgenden Tag eine wütende Strafpredigt vom Kapitän ertragen müssen.
    Das waren seine Erfahrungen, und er hatte seine Frau nie nach ihren Kenntnissen von dem, was sie erwartete, gefragt. Im entscheidenden Moment war es ein Kampf gewesen, bei dem jeder seine Krallen ausfuhr, und schließlich hatten sie sich jeder auf seine Seite des Betts geflüchtet, sie lautlos weinend, er verwundert. Aber sie hatten nach und nach zu einer Gemeinschaft gefunden, immer in der Dunkelheit, nicht besonders oft.
    Er lag wach und lauschte den Atemzügen von Sara Fred-rika. Er konnte hören, daß auch sie nicht schlief. Er stand auf, ging zu ihrem Bett hin und kroch hinein. Zu seiner Verwunderung nahm sie ihn entgegen, nackt, warm, weit offen. Für eine kurze Weile war es, als hätten alle Entfernungen aufgehört zu existieren. Der Sturm würde noch einen Tag dauern, vielleicht auch mehrere.
    Er hatte Zeit. Er näherte sich.
    Als er am nächsten Morgen die Augen aufschlug, hörte er, daß der Sturm sich schon gelegt hatte.
    Er versuchte sich in der Stille zu orientieren. Die Stille konnte groß oder klein sein, aber sie kam immer von irgendwoher, es gab eine südliche Stille und eine nördliche, eine östliche und eine westliche.
    Die Stille war immer unterwegs.
    Sara Fredrikas Bett war leer. Sie mußte sich völlig lautlos bewegen können. Er schlief meistens leicht und wachte immer auf, wenn seine Frau aus dem Bett stieg. Aber als Sara Fredrika hinausging, hatte er nichts gehört.
    Es war kalt im Zimmer, die Glut war längst erloschen. Plötzlich war er von Kristina Tackers Duft umgeben. Er wollte, daß sie ihn nie verlassen, sich nie heimlich einem anderen Mann nähern sollte. In den ersten Jahren war er ihr wie ein Schatten gefolgt, wenn sie nachts aufwachte und aus dem Schlafzimmer tappte. Aber sie ging nur auf die Toilette oder goß sich ein Glas Wasser aus der Karaffe ein, die immer auf dem Tisch im Wohnzimmer stand. Mitunter stand sie auch mitten im Zimmer vor den Regalen mit Porzellanfiguren; in Gedanken verloren, so weit weg, daß er meinte, sie würde nicht wiederkommen.
    Er sagte ihr nie etwas davon. Wahrscheinlich hatte sie nicht bemerkt, daß er sie überwachte.
    Manchmal dachte er, sie seien wie ein Schiff in engen Fahrwassern. Mit Richtfeuern, die Aufmerksamkeit voraus und achteraus verlangten, nicht nach den Seiten.
    Der Fußboden war kalt. Er stand auf, zog seine Stiefel, den Pullover und die Jacke an und ging hinaus. Der Wind fuhr noch hin und wieder zwischen den Klippen hindurch. Er sah sich um, ohne sie zu entdecken. Dann ging er hinunter in die Bucht, wo die Boote lagen. Kurz vorher bog er vom Pfad ab und schlich sich zu einem dichten Schlehengestrüpp.
    Sie saß hinten in ihrem Boot und schöpfte mit einem Holzbottich Wasser. Den Rock hatte sie über den Knien zusammengebunden, eine ihrer langen Haarsträhnen hatte sie sich in den Mundwinkel geklemmt. Er sah sie an und

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