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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Unpäßlichkeit, die das barsche Auftreten des Kommandanten erkläre. Aber sein Verhalten änderte sich nicht. Er versuchte vergebens, die Ursache zu erraten. Leutnant Jakobsson verschanzte sich hinter Wänden und saß bei den gemeinsamen Mahlzeiten stumm da.
    Der Dezember rückte näher. Fregattenkapitän Rake hatte das Kommando über sein Schiff wieder übernommen. Lars Tobiasson-Svartman schrieb einen langen Brief an Kristina Tacker. Drei Tage nach seiner Nacht auf Halsskär übergab er ihn zur Weiterbeförderung.
    Als er durchlas, was er geschrieben hatte, überkam ihn das Gefühl, ein Schweigen in den Umschlag gesteckt zu haben. Den Worten fehlte die Bedeutung, auch wenn es einen Zusammenhang zwischen den Sätzen gab. Er schrieb über den Sturm, aber nichts über die Nacht auf der Schäre, er schrieb über das Leben auf dem Schiff, über das Essen und den Koch, den er lobte, und er schrieb freundliche Worte über Leutnant Jakobsson; aber nichts davon war wahr.
    Und vor allem schrieb er nicht das, was er dachte: Er zeichnete Wasserstraßen für andere, damit sie sicher fahren konnten. Doch in sich selbst zeichnete er Karten, die in die Irre führten.
    Als er den Umschlag zuklebte, hatte er den verschwommenen Gedanken, daß er log, um sich zu rächen, um sich dafür zu rächen, daß seine Frau nie eine ihrer Porzellanfiguren zu Boden fallen ließ.
    Fregattenkapitän Rake war von einem abstoßenden Ekzem an Wangen und Stirn befallen worden. Lars Tobiasson-Svart-man war es unangenehm, wenn er Rakes Gesicht sah. Rote Flecke vereinigten sich zu kleinen erhöhten Inseln, gelbe Eiterbeulen drohten in diesem Archipel zu platzen.
    Rake selbst schien es nicht zu stören. Er sprach enthusiastisch über den Krieg. Die deutsche Invasion in Frankreich verlief nach dem sogenannten Schlieffenplan. »Das ist einer der ausführlichsten Kriegspläne, die jemals entworfen worden sind«, sagte Rake. »General von Schlieffen hat in den späten Jahren seines Lebens einen Plan erarbeitet, der die französische Niederlage und den deutschen Gesamtsieg sichern sollte. In diesem seltsamen Plan war alles bedacht: wie viele Eisenbahnwaggons nötig waren, um Truppen, Pferde, Kanonen und Vorräte zu transportieren, exakte Berechnungen, wie jeder Zug zu fahren hat, damit es keine Stockungen gibt. Eine große Anzahl von Pionieroffizieren wurde in gehobene Eisenbahnverwalter verwandelt. Leider ist von Schlieffen im Januar 1913 gestorben und kann die Verwirklichung seines Plans nicht erleben. Alles geht gut. Zu gut, könnte man meinen. Nur eine Sache fehlt in Schlieffens Plan. Die Einsicht, daß sich nicht alles planen läßt. Kein Krieg kann gewonnen werden, wenn es da nicht auch ein improvisatorisches Element gibt. Auf die gleiche Weise, wie keine bedeutende Kunst ohne den irrationalen Einschlag geschaffen werden kann, der ganz einfach aus dem Talent des Künstlers tammt.«
    Sie tranken Kognak. Der Verschlüsselungsoffizier brach te das Logbuch, Rake sprach weiter über den Krieg und nahm den Brief von Lars Tobiasson-Svartman entgegen. Er selbst hatte keinen Brief von Kristina Tacker zu überreichen.
    Sie trennten sich auf dem Brückennock an Backbord. Es war windstill und kalt. Der Sternenhimmel ganz klar.
    »Vermutlich wird Schweden sich aus dem Krieg heraushalten«, sagte Rake. »Ob es das Beste ist, was hätte geschehen können, wird die Zukunft erweisen.«
    Lars Tobiasson-Svartman kehrte über den Steg zurück, der steil zum Deck der Blenda abfiel. Gerade als er in seine Kajüte gehen wollte, nahm er den Geruch von Pfeifentabak wahr. Er drehte sich um und sah Leutnant Jakobsson in der Dunkelheit an einem der Kanonentürme.
    Sein Gesicht lag im Schatten. Die Pfeife glühte. Lars Tobiasson-Svartman verspürte ein plötzliches Unbehagen.
    Der Schatten des Kommandanten machte ihm angst.
    Vier Tage bevor die Vermessungen bei Sandsänkan abgeschlossen werden sollten, ruderte er wieder nach Halsskär. Er wußte nicht, warum er sie wiedersehen wollte. Der Geruch nach Schweiß und Urin stand wie eine Barriere zwischen ihnen.
    Zugleich übte er eine Verlockung auf ihn aus.
    Das Wasser war ruhig, dunkle Wolken zogen aus Nordost heran, das Thermometer fiel. Das Meer roch herb, als sonderte es einen unbekannten Stoff aus.
    Er legte in der Bucht an. Die Netze hingen an den Trok-kengestellen, sie waren feucht und rochen nach in die Handfläche, eine Rückenflosse oder Zähne. Er zog die blutende Hand heraus. Die Wut schlug zu wie ein Reptil. Er kippte den

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