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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Kasten um und ließ die Fische in die Freiheit entschlüpfen.
    Er erinnerte sich an das Treibnetz, das er, an die Reling gelehnt, an einem der ersten Morgen gesehen hatte. Das war jetzt fern, eine schwache Erinnerung an ein Bild von den unmöglichen Bedingungen der Freiheit.
    Er drehte den Fischkasten wieder um und ging davon. Er legte sich hinter den Klippen auf den Boden und spähte zum Haus hinüber. Es stieg kein Rauch aus dem Kamin auf, die Tür war geschlossen. Schnee begann zu fallen, ein dünner weißer Schimmer in der Luft.
    Sie hatte sich lautlos bewegt und stand dicht hinter ihm, als er sich umdrehte. Sie sah ihm starr in die Augen, wirkte sprungbereit. »Warum liegst du hier? Was willst du? Was habe ich dir getan?«
    »Nichts. Ich habe dich gesucht, ich habe mich hierhergelegt und gewartet.«
    »Mit dem Feldstecher?«
    »Ja, ich studiere gern die Einzelheiten.«
    »Was habe ich getan?« wiederholte sie.
    »Nichts. Ich wollte dich nicht erschrecken.«
    »Du erschreckst mich nicht. Was sollte mich noch erschrecken, nach allem, was ich mitgemacht habe?«
    Plötzlich packte sie ihn am Arm. »Hilf mir von hier weg.«
    Die Stimme war heiser, fast fauchend. Er sah, wie sich ihr Gesicht veränderte.
    »Ich sterbe hier«, sagte sie. »Hilf mir hier weg. Laß mich auf dem Schiff mitfahren. Ich kann hier nicht länger leben.«
    »Ich kann dich nicht mit auf ein Kriegsschiff nehmen. Hast du keine Familie?« daß Teile seines Körpers im Netz mit hochkommen könnten. Ein Arm, ein Fuß, sein Kopf. Ich halte den Gedanken nicht aus. Ich muß hier weg.«
    »Dabei kann ich dir wohl kaum helfen.«
    Ihr Gesicht war dem seinen nahe. Es war wie in der Nacht. Alle Gerüche waren verschwunden.
    »Ich will alles dafür tun, daß ich hier nicht bleiben muß.«
    Sie tastete mit den Händen über seinen Körper. Er stieß sie behutsam von sich und stand auf.
    »Ich komme zurück«, sagte er. »Ich muß mir das alles überlegen. Ich komme zurück. In ein paar Tagen. In drei Tagen, höchstens vier.«
    Er eilte hinunter zu seinem Boot. Der Schnee fiel immer noch dünn. Er ruderte von Halsskär fort und sah sie auf einer Klippe stehen und ihm mit dem Blick folgen.
    Vier Tage würde sie warten. Wenn der fünfte Tag kam, würde das Schiff schon fort sein.
    Er ruderte mit langen, saugenden Schlägen und sehnte sich nach Hause. Kristina Tacker saß auf der Ducht und lächelte ihm zu. Der Auftrag wäre bald abgeschlossen.
    Am folgenden Tag nahm er die letzten Vermessungen vor. Was jetzt noch blieb, war ein letzter Durchgang des vermessenen Gebiets. Es sollte zwei Tage dauern, wenn das Wetter ruhig blieb.
    Das Barometer stieg, die dicksten Schneewolken waren nach Süden abgezogen.
    Zum letzten Mal ließ er sein Lot auf den Grund sinken. Wieder verspürte er die schwindelerregende Hoffnung, einen Punkt zu finden, wo es keinen Boden gab, den Punkt, an dem sein ganzes Leben sich auflösen und verändern, zugleich aber auch einen Sinn erhalten würde. Das Lot blieb bei 19 Metern stehen. Er machte die letzte Aufzeichnung. 5346 Male hatte er das Lot ins Wasser getaucht, seit sie mit ihrer Arbeit begonnen hatten.
    Sie ruderten zurück zur Blenda. Die Matrosen wirkten ausgelassen, sie ruderten aus Leibeskräften. Lars Tobiasson-Svartman wußte, daß sie über lange Zeit bei ihren Freiwachen mit leiser Stimme den einförmigen Auftrag verflucht hatten, der ihnen auferlegt worden war.
    Mats Lindegren, der Matrose, den Lars Tobiasson-Svartman geschlagen hatte, saß immer noch am hintersten Ruder. Die dicke Lippe war abgeschwollen. Er vermied es, ihm in die Augen zu sehen.
    Leutnant Jakobsson stand mit seiner Pfeife in der Hand da, als sie begannen, die beiden Barkassen an Bord zu hieven. Nach wie vor war er stumm und abweisend. Lars Tobiasson-Svartman empfand Freude darüber, daß sie sich bald trennen würden, um sich nie mehr wiederzusehen.
    Er meldete, daß die Vermessungen abgeschlossen seien. Leutnant Jakobsson nickte, ohne etwas zu sagen. Dann zündete er die Pfeife an, sog den Rauch ein, hustete kurz und fiel mitten auf dem Deck um, als hätte ihn der harte Schlag einer unsichtbaren Faust getroffen.
    Er fiel lautlos. Alle hielten inne, die Matrosen zögerten an den Taljen und Seilen der Hebewinde, Lars Tobiasson-Svartman hielt sein Notizbuch und sein Lot in den Händen.
    Der erste, der reagierte, war Mats Lindegren. Er hockte sich hin, betastete mit den Fingerspitzen den Hals des Kommandanten. Dann erhob er sich und salutierte. Sein Dialekt war so

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