Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
wenn er sich in dem Bild der Tagebücher nicht wiedererkannte, kam er nicht davon los, daß es für Jakobsson die Wahrheit gewesen war. Er hatte sie mit in den Tod genommen.
    Niemand konnte sie zurückholen.
    Am 2. Dezember blies eine steife Brise über die Fahrwasser nördlich von Gotland.
    Gegen neun Uhr vormittags war die Svea am Horizont aufgetaucht. Lars Tobiasson-Svartman hatte seine Koffer gepackt und sich von den Offizieren verabschiedet. Am Tag zuvor hatte er auch den Matrosen gedankt, die an der Arbeit teilgenommen hatten. Mats Lindegren hatte sich jedoch nicht gezeigt, und er hatte ihm nicht befohlen, sich an Deck einzufinden.
    Später am Abend war er zu einem kleinen Fest in der Messe geladen worden. Der neue Kommandant Freden hatte seine Zustimmung erteilt, sofern sie nicht zu laut würden, eingedenk dessen, daß sich ein Toter an Bord befand. Ein Flaggsteuermann und der Chefmaschinist hatten gute Singstimmen und trugen ein paar Trinklieder vor. Sie hatten einer Punschbowle mit einem kräftigen Schuß Branntwein darin reichlich zugesprochen. Als alle betrunken waren, hatten sie natürlich angefangen, über den toten Kommandanten zu sprechen. Mehrere der anwesenden Offiziere behaupteten, Leutnant Jakobsson wäre von Lars Tobiasson-Svart-mans Arbeit angetan gewesen. Er mußte sich nicht verstellen, um zu zeigen, daß er erstaunt war. Aber es hielt ihn nicht lange bei dem improvisierten Fest; er zog sich mit der Entschuldigung zurück, daß er noch einige Berichte schreiben müsse.
    Das letzte, was er hörte, bevor er einschlief, waren die dunklen, undeutlichen Männerstimmen, die sangen, möglicherweise auf italienisch.
    Als er das Kanonenboot verließ und ein letztes Mal über den ausgefahrenen Landungssteg ging, warf er einen Blick über die Schulter, wie um sich zu vergewissern, daß Jakobsson nicht wieder auferstanden war.
    Zwei Matrosen brachten sein Gepäck zu der Kajüte, die er auch zu Beginn seines Einsatzes belegt hatte.
    Er stand ganz still in der Kajüte. Er war wieder am Ausgangspunkt.
    Fregattenkapitän Rake empfing ihn. Er hatte seine Haare dicht über der Kopfhaut abgeschnitten und machte einen sehr erschöpften Eindruck. Sein linkes Auge war entzündet und näßte. Das Ekzem blühte.
    Sie setzten sich, Kapitän Rake servierte Kognak, obgleich noch Vormittag war.
    »Ich bin ein Mann, der nach strikter Routine lebt. Ich hasse Ausbrüche von mangelnder Disziplin. Die Menschen können niemals Würde erlangen, wenn sie nicht erkennen, wie wichtig es ist, sich selbst und anderen zu gehorchen. Aber manchmal erlaube ich mir vorsichtige kleine Fehltritte, zum Beispiel den, daß ich mir am Vormittag ein oder vielleicht zwei Glas Schnaps gönne.«
    Sie stießen an.
    »All die Toten«, sagte Kapitän Rake plötzlich. »Auf dem Weg hierher starb der Bootsmann Rudin. Dann habt ihr einen Kadaver in der Uniform der deutschen Marine herausgefischt. Und jetzt Leutnant Jakobsson. War es das Herz?«
    Lars Tobiasson-Svartman bemerkte, daß seine Hände zitterten.
    »Es sind die kleinen unsichtbaren Blutgefäße, die unser schwächster Punkt sein können«, sagte Rake. »Wenn sie platzen, werden wir in einen freien Fall hinausgeschleudert, der uns zum Tod und ins Grab bringt, oder zur Lähmung und an die eiserne Lunge, zu einer kurzen Qual oder zu einem langen und entsetzlichen Leiden.«
    Er kniff die Augen zusammen und fixierte Lars Tobiasson-Svartman. »Was ist Ihre Schwäche? Sie brauchen natürlich nicht zu antworten, wenn Sie nicht wollen. Es ist ein Recht, das man als Mensch hat, nicht zu enthüllen, welchen Jammer man mit sich herumschleppt. Schwäche oder Elend sind nach meiner Auffassung dieselbe Sache. Es fragt sich nur, welches Wort man wählt.«
    Lars Tobiasson-Svartman dachte, daß seine Schwäche eine Frau war, die allein auf einer Schäre lebte, etwa eine halbe Seemeile südlich vom Panzerschiff. Aber er sagte nichts. Auch Rake wurde jetzt eine Person, von der er sich bald frohgemut für immer würde verabschieden können.
    »Ich habe viele Schwächen«,.erwiderte er. »Es ist unmöglich, eine einzige hervorzuheben.«
    »Meine Frage war nur zum Teil ernst gemeint.«
    Rake stand auf, zum Zeichen, daß das Gespräch beendet war. »Das Wetter wird ruhig sein. Wir rechnen damit, morgen um neun an Skeppsholmen anzulegen. Leider können wir nicht mit der höchsten Geschwindigkeit fahren.«
    »Gibt es einen Maschinenfehler?«
    »Ein unglücklicher Beschluß des Marinestabs steckt dahinter. In einem

Weitere Kostenlose Bücher