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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Wal-lingata stehen und ging zu einem einfachen Lokal mit Bierausschank, einen Block entfernt. Es war früh am Tag, aber er kannte die Wirtin, die Witwe eines Segelmachers, der sein ganzes Leben im Staatsdienst verbracht hatte. Sie hieß Sally Andersson, es sang um ihre Bewegungen. Bei ihr konnte er um sechs Uhr morgens ankommen und sich einen Rausch antrinken, wenn er wollte. Sie war noch jung, die tapfere singende Witwe, und er hörte nie auf, sich über ihre leuchtendweißen Zähne zu wundern.
    Sally Andersson stand da inmitten ihrer Tassen und Krüge und sah ihn kommen. »Ich habe dich lange nicht gesehen. Es muß eine lange Reise gewesen sein, die jetzt zu Ende ist«, sagte sie und wischte die Platte eines Ecktischs ab, an dem er zu sitzen pflegte. »Erkläre mir, warum die Marine so miserable Köche beschäftigt.«
    »Woraus schließt du das?«
    »Du bist zu mager. Ein Kapitän darf nicht so mager sein.
    Eines Tages weht der Wind durch dich hindurch. Dann wirst du zum Fraß der Möwen.«
    »Der Koch war gut. Aber das Meer zehrt. Man magert nicht ab, man wird vom Salz und von den ständigen Bewegungen des Meers abgeschliffen.«
    Sie lachte, schlug mit dem Lappen gegen eine Stuhllehne und stellte ihm wie üblich ein Glas Bier mit einem Schnaps hin.
    Ein paar Jahre zuvor, im Mai 1912, nach einer ausgiebigen Kontrolle der geheimen Fahrwasser um das nördliche Gotland und Färön herum, hatte er bei seiner Heimkehr viel zuviel getrunken. Bereits um zehn Uhr vormittags war er stark betrunken und hatte ununterbrochen geredet. Er hatte die Kontrolle über sich selbst verloren, und Sally Andersson hatte ihn vor der Demütigung bewahrt. Als er Dinge über den Marinestab sagte, die er später bereuen würde, hatte sie ihn in ein Zimmer hinter der Küche geschleppt und ihn auf eine Holzbank gelegt. Obwohl es zwei Kellnerinnen gab, kümmerte sich Sally Andersson immer persönlich um ihn. Niemand anders durfte in seine Nähe kommen, neue Gläser hinstellen, das Bier aufwischen, das er umstieß, wenn er in seiner Trunkenheit große Gesten machte. Sie gab ihm das zu trinken, was er brauchte, niemals mehr, und sie war es auch, die ihm schließlich sagte, er solle aufbrechen.
    »Du bist am Ziel«, sagte sie. »Jetzt kannst du nach Hause gehen.«
    Er hatte ihr Urteil nie in Frage gestellt, sondern nur das Geld auf den Tisch gelegt und war gegangen.
    An diesem Morgen gab sie ihm verdünnten Branntwein und Bier zu trinken und drängte ihm ein paar Scheiben Brot mit viel Butter und dickem Schinkenbelag auf.
    Er trank schnell. Bereits nach einer halben Stunde war er betrunken. Sally Andersson setzte sich an den Tisch und sah ihn an. Ihre weißen Zähne glitzerten. Sie waren wie Schnek-ken. Wie blankpolierte Schnecken, die in einer Reihe standen, in dunkelroten Sand gesteckt.
    »Wie nahe ist der Krieg?« fragte sie.
    Er suchte in seinem trunkenen Gehirn nach einer Antwort. »Feuerschein«, sagte er schließlich. »In der Ferne auf dem Meer. Eine furchtbare Stille.«
    »Ich fragte, wie nah der Krieg ist, nicht wie er aussieht.«
    Er deutete auf seine Stirn. »Hier drinnen«, sagte er. »So nah ist der Krieg.«
    »Daß ein so kluger Mann aber auch so einen Mist verzapfen kann«, sagte sie und schüttelte den Kopf.
    Er leerte das Glas, aber als er mehr haben wollte, wies sie ihn ab.
    »Wenn du weitertrinkst, passierst du die Grenze.«
    »Welche Grenze?«
    »Die Grenze, an der eine Frau es nicht mehr schafft, sich zu ihrem Mann zu bekennen.«
    Er legte das Geld auf den Tisch. Es roch nach feuchtem Leder und nassen Wollsachen, als er den verräucherten Raum verließ. Auf der Straße stolperte er. Er ging um den Block und blieb in der Wallingata an der Haustür stehen. Der Mann, der das Gepäck bewachen sollte, war an einem Wagenrad lehnend eingeschlafen. Lars Tobiasson-Svartman gab ihm einen Tritt. Der Mann fuhr auf und lud das Gepäck aus.
    Er öffnete die Haustür. Drinnen in der Dunkelheit spürte er, daß er am Kai der Wallingata angelegt hatte.
    Kristina Tacker erwartete ihn in dem dunklen Flur. Das machte ihn unsicher, es verstieß gegen seinen Plan. Er hatte kein Telegramm geschickt, niemand anders hatte einen Grund gehabt, seine Heimkehr anzukündigen.
    Sie bemerkte seine Verwirrung und natürlich auch, daß er betrunken war. »Ich habe den Karren mit dem Gepäck gesehen. Es war, als würde es bis hier herauf zu den Fenstern nach Meer riechen. Aber ich habe mich schon seit einer Weile gefragt, wann du heraufkommen würdest.«
    »Ich

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