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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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wusch sich, kippte zwei weitere Gläser Kognak hinunter, putzte sich die Zähne und ging in das dunkle Schlafzimmer. Der Alkohol machte das Begehren stärker als die Unsicherheit.
    Danach, als vorbei war, was in vollständiger Stille geschah, dachte er, ihrer beider Liebe sei so, als würden sie um ihr Leben laufen. Vor allem verspürte er Erleichterung. Er versuchte sich etwas auszudenken, was er sagen konnte. Aber es gab nichts.
    Er lag lange wach und wußte, daß auch sie nicht eingeschlafen war. Er fragte sich, ob es einen größeren Abstand gäbe als den zwischen zwei Menschen, die im gleichen Bett liegen und vorgeben zu schlafen.
    Es war ein Abstand, den er nach den Maßstäben, über die er verfügte, noch nicht zu bestimmen vermocht hatte.
    erst gegen drei war er sicher, daß sie eingeschlafen war. Ihr Atem war tief, sie schnarchte ein wenig. Er stieg aus dem Bett, zog seinen Morgenmantel an und verließ das Zimmer. Aus einem Schrank holte er ein Paar weiße Handschuhe.
    Er goß sich ein Glas Kognak ein und ging zu ihrem Sekretär. Er horchte, ob sie erwacht wäre, stocherte vorsichtig das Schloß auf und holte ihr Tagebuch hervor. Er stellte sich vor, daß die weißen Handschuhe sein Eindringen mildern würden, da er die Buchseiten nicht mit seinen Händen berührte.
    Seit er abgereist war, hatte sie jeden Tag Eintragungen gemacht. Ihre plötzliche Weigerung, ihn bei seiner Abreise zum Kai zu begleiten, hatte sie nicht notiert. Da standen nur die Uhrzeit und das Wetter und Lars ist abgereist.
    Er blätterte weiter. Immerzu horchte er auf das Tappen ihrer Füße. Von der Straße her hörte man einen Mann, der seinen betrunkenen Zorn hinausschrie und Gott verfluchte.
    Ihre Aufzeichnungen waren meist kurz und immer nichtssagend.
    Ich habe einen Brief von Lars bekommen. Aber nichts über den Inhalt, nichts von ihren Gedanken über das, was er geschrieben hatte.
    Ihr Leben ist wie ein langsames Versinken, dachte er. Eines Tages wird sie mich mit in die Tiefe ziehen. Eines Tages wird sie nicht mehr der Deckel über dem Abgrund sein, auf dem ich balanciere.
    Als er zum 14. November kam, fand er etwas, das gegen dieses Muster verstieß. Sie hatte die Temperatur und die Windrichtung notiert, ein leichter Schneefall gegen neun, der bald aufhörte, aber da gab es noch etwas anderes, die ersten persönlichen Kommentare. Sie berichtete von einem Traum, den sie in dieser Nacht gehabt hatte. Er hatte sie geweckt, und sie war sofort aus dem Bett gestiegen und hatte aufgeschrieben, woran sie sich erinnerte. Sie endete mit den Worten: In gewissen Nächten ist die Stille kalt und abweisend, in anderen Nächten ist sie sanft und einladend. In dieser Nacht ist die Stille verschwunden.
    Danach waren die Aufzeichnungen wieder wie gewohnt. Temperatursturz, Windböen, das Auswechseln eines Leitungsrohrs in der Küche.
    In der Nacht zum 28. November träumte sie wieder:
    Ich werde mit einem Ruck wach. In der Dunkelheit des Schlafzimmers ahne ich einen Menschen, aber als ich mich aufsetze, ist da niemand, nur der weiße Mondschatten an der Tür. Ich bleibe im Bett sitzen, und ich weiß, daß der
    Traum wichtig ist. Ich stehe plötzlich auf einer Straße in einer fremden Stadt, ich weiß nicht, wie ich hingekommen hin oder wohin ich unterwegs bin. Auch kenne ich die Stadt nicht. Die Menschen um mich her sprechen eine Sprache, die ich nicht verstehe. Ich fange an, die Straße entlangzugehen, es herrscht reger Verkehr, es ist sehr warm, und ich habe einen dichten schwarzen Schleier vor dem Gesicht. Ich komme zu einem großen, offenen Platz mit einer Kathedrale. Auf dem Platz rennen Menschen hin und her, sie sind alle blind, aber sie spielen ein gewaltsames Spiel, sie stoßen zusammen, schlagen sich an den Steinwänden der Kathedrale oder an dem Springbrunnen mitten auf dem Platz blutig. Um nicht im Weg zu sein, gehe ich in die Kathedrale. Da drinnen ist es kalt und dunkel. Der Boden ist mit Neuschnee bedeckt, noch immer schweben einzelne Schneeflocken von den hohen Gewölbebögen hinab. Der Kirchenraum ist schwarz wie eine unendliche Eisfläche. Auf den Bänken sitzen vereinzelt Menschen. Ich gehe durch den Mittelgang nach vorn und setze mich auf eine Bank. Ich spreche keine Gebete, ich sitze nur da, ich weiß noch immer nicht, in welcher Stadt ich mich befinde, aber ich habe keine Angst. Das erstaunt mich, da ich immer Unsicherheit vor dem Fremden empfinde, ich, die ich es nie über mich bringe, allein zu verreisen, sondern immer jemand

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