Tiefe
sich niemand auch nur vorstellen kann.
In der Morgendämmerung machte er Feuer. Der Wind war immer noch schwach, die Temperatur ein Grad unter Null. Er aß die letzten Butterbrote, trank Kaffee und machte sich dann bereit, die letzten zehn Kilometer hinaus nach Halsskär zu wandern. Die Wolken lagen reglos über seinem Kopf, das Eis und die dünne Schneedecke waren nicht mehr von Felsen und Schären durchbrochen. Jetzt ging er auf das offene Meer zu. Durch den Feldstecher sah er Halsskär und den Leuchtturm von Sandsänkan. Doch konnte er immer noch nicht erkennen, ob das Eis bis ganz hinaus reichte.
Er zog die Säcke hinter sich her, vom Geschirr hatte er an der linken Schulter eine wundgescheuerte Stelle, aber nicht so schlimm, als daß er nicht noch einen Tag weitergehen konnte.
Nirgends sah er Spuren von Tieren. Er ging nach Osten und nahm sich nicht die Zeit für Ruhepausen. Jede halbe Stunde spähte er durch den Feldstecher zum Horizont.
Er hatte Krokbäden rechts liegen lassen, ehe er sicher war, daß das Eis trug. Kein offenes Wasser bildete ein Hindernis zwischen ihm und Halsskär. Das Eis lag bis hinaus zur Schäre, vielleicht bis zum Leuchtturm von Sandsänkan.
Er ließ den Feldstecher langsam über Halsskär schwenken. Schließlich fingen die Linsen einen schmalen Rauchstreifen ein, der von der Schäre aufstieg. Sie war noch da. Aber sie erwartete ihn nicht.
In der Dämmerung erreichte er Halsskär. Sein erster Gedanke war, übers Eis zu eilen und sich direkt zu Sara Fredrikas Hütte zu begeben. Aber irgend etwas hielt ihn davon ab, er zögerte. Was sollte er sagen ? Wie sollte er erklären, daß er zurückgekommen war? Was, wenn es ihn reute, sobald sie ihm die Tür aufmachte?
Er ballte die Fragen zu einem Klumpen zusammen: Warum befand er sich eigentlich hier auf dem Eis ? Warum hatte er diese Reise herbeigelogen? Was erwartete er überhaupt?
Er ging an Land, ohne zu einer Antwort gelangt zu sein. Sara Fredrikas Boot war an Land gezogen und lag umgedreht auf ein paar dicken Treibholz-Klötzen. Die Netze waren weg, eine zurückgelassene Heringstonne war bis zum Rand mit Schnee gefüllt.
Er machte sich ein Lager in einer Spalte zwischen der Bucht und den Klippen, wo das Häuschen sich versteckte. Von dort aus kannte er den Weg, er würde ihn in der Dunkelheit finden. Das war das einzige, wozu er sich hatte entschließen können, die Dunkelheit abzuwarten und sich anzuschleichen. Er wollte durch das Fenster sehen, was sie tat, erst dann würde er wissen, welches der nächste Schritt sein sollte.
Er kroch in den Schlafsack. Die Dunkelheit kam, aber er wartete noch. Die Wolken zerstreuten sich, es war sternklar, ein Streifen vom Neumond war zu sehen. Als er schließlich aufstand, war es neun Uhr. Er tastete sich zur Klippenkante vor und schaute aufs Meer hinaus. Der Leuchtturm von Sandsänkan war nicht zu sehen. Er kniff die Augen zusammen, einen Moment lang unsicher, ob er sich in den Himmelsrichtungen geirrt hätte. Dann wurde ihm klar, daß der Leuchtturm als ein Glied in der verstärkten schwedischen Küstenwache abgeschaltet worden war.
Mit der Dunkelheit war auch der Krieg hierhergekommen.
Er wartete noch eine Stunde. Der Wind war abgeflaut, das Eis lag bis so weit draußen, daß er das Meer nicht hören konnte. Er tastete sich den Pfad entlang.
Das Fenster war schwach erleuchtet. Er zuckte zusammen, als etwas sein Bein berührte. Es war die Katze. Er beugte sich hinunter und strich ihr übers Fell. Die Katze, die es nicht gab.
Er achtete darauf, wohin er die Füße setzte, als er sich dem Fenster näherte. Durch den Raureif konnte er ins Zimmer hineinsehen, es war ein zerbrochenes Bild.
Er fuhr zusammen und schreckte vom Fenster zurück. Die Katze folgte ihm und strich ihm um die Beine.
Er warf noch einen Blick durchs Fenster. Sara Fredrika hockte da drin vor dem Feuer. Sie hatte eine zottelige Mütze auf und war in Decken eingehüllt. Aber sie war nicht allein. Auf dem Boden neben der Feuerstelle saß ein Mann in Uniform. Vor ein paar Monaten hatte er die gleiche Uniform ge-sehen. An einem deutschen Soldaten, der nahe beim Kanonenboot Blenda im Meer gelegen hatte.
Das Bild jagte einen ziehenden Schmerz durch ihn hindurch.
In Fredrikas Haus saß ein deutscher Soldat. Ein deutscher Soldat, der ihm den Weg versperrte.
Die Katze war neben ihm. Sie strich ihm weiter um die Beine.
Teil 6 DAS KREUZOTTERNSPIEL
Jemand hatte seinen Platz eingenommen, sein Fuchsfell. Durch die dünne Tür
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