Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
Vom Netzwerk:
Erst 1893 waren sieben schwedische Robbenjäger auf einer Eisscholle durch eine ausgedehnte Spalte isoliert worden, die es ihnen unmöglich machte zurückzukehren. Der einzige Überlebende, ein Bauer aus Öland, hatte dem Bootsmann erzählt, daß die Eisdecke fest und geschlossen gewesen war und Windstille herrschte, als sie aufbrachen. Plötzlich hörten die Jäger ein Dröhnen, das Eis war gerissen, das Meer hatte sich wie ein gigantischer Walrücken erhoben, und sie hatten nicht umkehren können. Sie trieben dem Untergang entgegen, die Spalte erweiterte sich, er war der einzige, der mit amputierten erfrorenen Füßen überlebt hatte, der einzige, der von dem plötzlichen Riß erzählen konnte.
    Das Eis lebte, man konnte ihm nicht trauen.
    Lars Tobiasson-Svartman erzählte jetzt Sara Fredrika, daß sie zu acht Mann unterwegs vom Festland gewesen seien, um Eisbohrungen vorzunehmen und gewisse Meßresultate vom vergangenen Herbst zu kontrollieren. Irgendwo in den äußeren Schären, vielleicht bei Lökskär oder dem Tyskärsarchipel, war er allein auf eine Erkundungstour gegangen. Da hatte sich die Spalte geöffnet und ihn von den anderen getrennt. Er hatte kaum Proviant dabei, seine einzige Möglichkeit war, in Richtung Meer zu gehen, nach Halsskär, wo er wußte, daß sie sich befand.
    »Du hättest natürlich fort sein können«, sagte er zum Schluß. »Das Haus hätte leerstehen können. Aber dann hätte ich jedenfalls ein Dach über dem Kopf gehabt, ich hätte Löcher ins Eis bohren, fischen und überleben können.«
    »Ich bin noch da«, sagte sie.
    »Der Riß wird wohl wieder zufrieren. Aber man kann nicht wissen, wie lange es dauert.«
    »Ich bin nicht allein«, sagte sie. »Du bist nicht der erste, der in diesem Winter übers Eis gekommen ist. Jemand ist aus der anderen Richtung gekommen.«
    »Vom Meer her?«
    »Mit einem Ruderboot, einem solchen, wie du eins hattest.«
    »Ich habe es nicht in der Bucht gesehen.«
    »Er ließ es treiben, als er den Eisrand erreichte.«
    »Er?«
    Sie hockte sich plötzlich dicht neben ihn auf den Fußboden, er nahm gleich wahr, daß sie schlecht roch.
    Gewöhnlich empfand er einen Widerwillen gegen Menschen, die stanken, wie das Dienstmädchen Anna. Als er auf dem Kanonenboot Edda Dienst tat, hatte er als junger Kadett bei einem Fallreepmanöver einen einfältigen Matrosen mit verfaulten Zähnen anleiten müssen. Es kam ein Geruch aus seinem Mund, wie er ihn sich nie hätte vorstellen können. Auch zwei Meter von dem Matrosen entfernt schlug ihm der Geruch noch entgegen, es war der Geruch des Todes, der mit jedem Atemzug aus dem Mund des Matrosen fuhr. Sara Fredrika stank nicht nach Tod. Sie roch nur nach Schmutz, ein freundlicher, etwas trauriger Geruch von Dreck, den er ertragen konnte. Weil ich sie liebe, dachte er. Einfach so. Deshalb ertrage ich sie.
    Sie hockte sich dicht neben ihn und sprach mit leiser Stimme. Aber derjenige, der sich in der Vorratskammer bei den Netzen befand, konnte sie nicht verstehen, er konnte nur erraten, daß die flüsternden Stimmen jetzt von ihm sprachen.
    Er muß Angst haben, dachte Lars Tobiasson-Svartman. Ein deutscher Soldat, der keine annehmbaren Gründe hatte, sich auf schwedischem Boden aufzuhalten. Auf einer Klippe wie Halsskär, bei einer Fischerwitwe.
    Er hatte sein Boot treiben lassen. Wer immer er war, er hatte eine gefährliche Brücke hinter sich abgerissen.
    Sie sagte: »Ich bin hier nicht allein. Da ist jemand bei den Netzen.«
    Er tat verwundert. »Wen versteckst du? Wer versteckt sich?«
    »Du hast im letzten Herbst, als du hier warst, vom Krieg erzählt. Manchmal wachte ich von einem dumpfen Donner auf, der die Hütte erzittern ließ. Ich ging hinauf auf den Berg, manchmal sah ich Feuerschein. Einmal, als ich nördlich der Schäre Netze einholte, draußen bei Jungfrugrunden, trieb ein Tauende vorbei. Es war wie eine lange Schlange im Wasser. Das Seil war so dick wie mein Arm. Es roch nach Pulver, es roch nach Tod. Ich rührte es nicht an, es schlängelte sich so, als wäre es lebendig. Ich wußte, daß dieses Tauende mit dem Krieg zu tun hatte. Einige Tage tet. Sie machen hier draußen Jagd auf Robben, aber vor allem schmuggeln sie Branntwein, sie haben mir nie etwas getan. Diesmal hatten sie einen Mann von den Älandinseln in der Schaluppe dabei. Er hieß Ville, mit Nachnamen vielleicht Honka. Er erzählte vom Krieg, und er fing an zu weinen und uns Schweden zu verfluchen, weil wir keine Truppen nach Aland schicken wollten,

Weitere Kostenlose Bücher