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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Köpfe abschnitt. Hinterher war er immer von Unlust und Reue erfaßt worden. Während seiner Jahre als Kadett war er daran beteiligt gewesen, Beutel mit Schwarzpulver an Straßenhunden festzubinden, die sie dann mit brennender Lunte verjagten. Sie hatten gewettet, welcher Hund es am weitesten schaffte, ehe er in die Luft gesprengt wurde.
    Aber darüber hinaus?
    Er hatte noch keinen Menschen getötet, er fürchtete den Tod.
    Die Katze war ihm zu nahe gekommen. Sie hatte sich auf ein verbotenes Territorium geschlichen. Die Katze hatte die Grenze überschritten, mit der er sich umgab.
    Er sah mit zusammengekniffenen Augen in den Himmel. Es war zehn Uhr. Die Kontur der weißen Sonnenscheibe war hinter den dünnen Wolken zu sehen. Er betrachtete die Katze, die unten auf dem Eis lag. Um den Körper herum hatte sich eine Blutlache gebildet.
    Eigentlich war es nicht die Katze, dachte er. Ich habe etwas anderes angegriffen. Vielleicht meinen Vater ? Oder warum nicht Leutnant Jakobsson mit seiner verkrüppelten Hand und seinem geschwollenen Gesicht?
    Zwei Schatten erschienen über dem Eis. Zwei Adler, die auf den Winden ruhten. Sie hatten die tote Katze entdeckt. Durch den Feldstecher konnte er sehen, daß es junge Seeadler waren. Sie kreisten eine Weile, bevor sie aufs Eis hinunterstießen. Wachsam näherten sie sich der Katze, als fürchteten sie eine Falle.
    Dann begannen sie zu fressen.
    Leben und Tod, dachte er. Mein Leben, mein Tod, meine Konservenbüchse mit amerikanischem Fleisch. Das Leben und der Tod der Katze, Adler auf einer unendlichen Eisfläche.
    Er legte Brennholz nach, steckte die Füße in den Sack und versuchte wieder, ganz ruhig nachzudenken. Als er aufstand, war es kurz nach zwölf. Er stieß mit dem Fuß Schnee über das Feuer, verteilte den Inhalt der Säcke so, daß er einen zurücklassen und nur den anderen mitnehmen mußte.
    Die Adler waren verschwunden. Von der Katze war nichts übriggeblieben als der dunkle Fleck von
    Er näherte sich der Hütte von der Bucht her, in der das Boot lag, blieb regungslos hinter einer Klippe stehen und spähte hinüber. Die Tür war geschlossen, der dünne Rauch trieb aus dem Kamin davon.
    Eine Minute würde er warten, eine Minute gab er sich Zeit, um es sich anders zu überlegen. Auch wenn er keinen Proviant mehr hatte, würde er es schaffen, bis nach Harste-na zu gehen, wo das größte Fischerdorf des Schärengebiets lag. Er konnte immer noch umkehren.
    Ich gehe, dachte er. Ich kehre über das Eis zurück. Sara Fredrika hat mit meinem Leben nichts zu tun. Ich riskiere etwas, das ich nicht verlieren will.
    Er tat einen Schritt zur Bucht hin, kehrte dann rasch um, ging zur Hütte und klopfte an die Tür. Sie machte nicht auf. Aber er klopfte nur dieses eine Mal. Er tat einen Schritt zurück, sie sollte ihn vom Fenster aus sehen können.
    Als sie die Tür weit öffnete, nicht nur einen Spaltbreit, wußte er, daß sie ihn gesehen hatte.
    »Du«, sagte sie. »Du hier?«
    Sie wartete nicht auf Antwort, sondern ließ ihn ein. Das Zimmer war leer, er fühlte, daß er die Oberhand hatte. Sie hatte den fremden Mann in der Vorratskammer mit den Netzen und Tonnen und Lockvögeln versteckt. Er schnupperte und nahm den Geruch von etwas Fremdem wahr, wie von altem Maschinenöl und Waffenfett. Er hockte sich vors Feuer und wärmte seine Hände.
    Seine Geschichte hatte er sorgfältig vorbereitet. In der verlassenen Winterlandschaft geht es besser als in den Städten, dachte er. Weit draußen am offenen Meer ist die Wahrheit schwerer zu kontrollieren.
    Er hatte einmal einen Unteroffizier in Karlskrona getroffen, der Bootsmann auf der Svensksund gewesen war. Auf diesem Schiff war die schwedische Ballonexpedition unter der Leitung des Patentingenieurs Andre im Sommer 1896 nach Spitzbergen aufgebrochen. Das Schiff war mit einem verstärkten Rumpf ausgerüstet, um durchs Eis fahren zu können und auch Packeiswälle zu bewältigen. Es war jetzt fast zwanzig Jahre her, niemand hatte mehr etwas von den drei Ballonfahrern gehört, die im Nebel über dem unendlichen Eismeer verschwunden waren.
    Sie hatten über die Expedition geredet und über das Eis und sein rätselhaftes Wesen. Der Bootsmann hatte erzählt, daß das Eis aufbrechen konnte, in gewaltige Spalten zerspringen, ohne daß äußere Kräfte in Bewegung gesetzt wurden. Plötzlich war die Spalte einfach da. Es war, als würde das Eis ein Geheimnis bergen. Der Bootsmann behauptete, die Eskimos würden es »die erfrorene Seele« nennen.

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