Tiefe
Dorflinger war auf der anderen Seite.
»Du weißt, welches Schicksal einen Deserteur erwartet«, sagte Lars Tobiasson-Svartman. »Sie werden dich an einem Baum erhängen oder an einem Laternenpfahl. Oder sie erschießen dich, und vielleicht köpfen sie dich. Sie werden dir ein Schild vor die Brust hängen. Er ist ein Verräter. Und es wird viele Freiwillige geben, die nur zu gern den Strick straffziehen oder das Gewehr abfeuern wollen. Ein Deserteur ist ein Mann, der anderen das Leben stiehlt.«
Lars Tobiasson-Svartman trat einen Schritt zurück. Stefan Dorflinger folgte ihm. Er trat auf die angebohrte Fläche, die Eisluke barst, und er landete im Wasser. Lars Tobiasson-Svartman hob das Lot und schlug ihn damit fest in den Nacken. Zu seinem Erstaunen sah er, daß im Messing eine blutige Beule entstand. Dann entdeckte er, daß Stefan Dorflinger noch lebte. Seine Hände zerrten an der Eiskante. Mit aufgerissenen Augen starrte er Lars Tobiasson-Svartman an.
Lars Tobiasson-Svartman nahm einen der Eissporen, die um seinen Hals hingen, und hackte und band dem Mann im Eisloch das Seil um den Leib. Das Wasser war kalt, der Eismatsch klebrig von Blut. Er vermied es, das Gesicht mit den Versehrten Augen anzusehen. Als er den Senkstein hineinschob, wurde der Körper sofort in die Tiefe gesogen und verschwand.
Er erinnerte sich an das Begräbnis von Karl-Heinz Richter. Jetzt würden er und Stefan Dorflinger sich bald auf dem Kirchhof treffen, der 160 Meter unter der Oberfläche lag. Zwei Männer ohne Augen, zwei Männer, die in fünf bis sechs Minuten sacht zu Boden gesunken waren.
Er lauschte. Nichts war zu hören. Er wischte sein Lot ab und scharrte das Blut weg, das übers Eis gespritzt war.
Als um das Eisloch herum alles sauber war, wurde ihm schlagartig klar, was er getan hatte. Sein ganzes Leben lang hatte er Angst vor dem Tod gehabt, vor toten Menschen. Jetzt hatte er selbst einen Menschen getötet, nicht im Krieg, nicht auf Befehl, nicht in Notwehr. Er hatte kaltblütig gehandelt, überlegt, ohne Zögern oder Reue. Er sah zum Eisloch hin, zu der kleinen Eisrinne, zur Graböffnung. Da unten in der Tiefe sinken zwei Menschen zu Boden, dachte er.
Der eine ist ein deutscher Deserteur, den ich totgeschlagen habe, da er sich mir in den Weg stellte.
Aber da ist noch einer, der mit einem unsichtbaren Senkstein um den Hals versinkt.
Das bin ich. Derjenige, der ich war. Oder möglicherweise der, von dem ich endlich weiß, daß ich es bin.
Er wurde von einem plötzlichen Schwindel erfaßt. Um nicht umzufallen, setzte er sich aufs Eis. Das Herz raste, das Atmen fiel ihm schwer. Er starrte auf das Eisloch und hatte das eigentümliche Gefühl, daß Stefan Dorflinger aus dem eiskalten Wasser herausklettern könnte.
Was habe ich getan, dachte er starr vor Schreck. Was geschieht mit mir?
Es gab keine Antwort. Die Panik, die ihn überfiel, war stumm.
Er erhob sich und wollte sich hinabstürzen. Da stand plötzlich Kristina Tacker an seiner Seite und sagte: »Du bist nicht derjenige, der sterben soll. Es sind deine Feinde, die sterben. Leutnant Jakobsson, der dich verachtete, fiel um und starb. Du lebst, und die anderen sterben. Vergiß niemals, daß ich dich liebe.«
Dann war sie wieder verschwunden.
Die Liebe ist unbegreiflich, dachte er. Unbegreiflich, aber vielleicht unüberwindbar.
Er blieb eine halbe Stunde am Eisloch und kehrte dann zur Schäre zurück, die sich immer noch im Nebel verbarg. Wenn er einen Ast sah, der den Weg markierte, bückte er sich und warf ihn zur Seite. Abwechselnd warf er den einen nach links, den anderen nach rechts.
Bald würde auch das Eisloch zugefroren sein. Hinter ihm gab es keinen Weg mehr.
Hinter ihm gab es nichts.
Es würde nicht schwierig sein, Sara Fredrika zu erklären, was geschehen war.
Der Deserteur hatte der Angst einfach nicht mehr widerstehen können.
Es gab Menschen, die versuchten, den Tod zu überlisten, indem sie sich das Leben nahmen. Das war nichts Besonderes, es geschah häufig, vor allem in Kriegszeiten. In der Nähe des Todes suchten die Menschen nicht nur das Leben, sondern auch Möglichkeiten, sich den Tod im voraus zu holen.
Er erreichte das Ufer und warf den letzten Ast in den Nebel hinaus.
Sie war oben am Haus und nahm Fische aus, ein paar Dorsche, einen Barsch, als er aus dem Nebel hervortrat.
Sie wußte sofort, daß etwas geschehen war. Sie ließ das Fischmesser fallen und setzte sich, nicht auf den Hocker, der hinter ihr stand, sondern direkt auf den
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