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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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war nicht älter als sechzehn, mein Onkel wollte zwei Kühe verkaufen, ich sollte mitkommen. Ich erinnere mich an die Stadt nur als an einen Ort, wo niemand mich sah. Die Stadt hatte einen Geruch, der mir das Atmen schwermachte.«
    »Trotzdem willst du, daß ich dich von hier weghole?«
    »Ich denke, daß man es lernen kann. Wie das Schwimmen. Oder Rudern. Man kann auch in einer Stadt zu atmen lernen.«
    »Ich werde dich hier wegholen«, sagte er. »Aber nicht jetzt. Erst muß ich dem anderen helfen.«
    Sie betrachtete ihn unsicher. »Meinst du, was du sagst?«
    »Ich meine immer, was ich sage.«
    Sara Fredrika kehrte zur Hütte zurück. Er sah, wie sie über die Klippen sprang, sie kannte jeden Stein.
    Er wartete, bis sie verschwunden war. Dann holte er den Deserteur, der bibbernd in seiner Felskluft
    In der Nacht erwachte er von einer Bewegung. Der Mann, der an seiner Seite lag, erhob sich vorsichtig. Die Glut im Kamin war fast erloschen, die Kälte gewann bereits die Oberhand im Raum. Er hörte, wie der Mann sich zur Pritsche vortastete, ein leises Flüstern, dann Stille, nur ihrer beider Atem.
    Er blieb wach, bis der Mann vorsichtig zu seinem Platz auf dem Fußboden zurückkehrte.
    Die Eifersucht stieg aus der Tiefe auf und näherte sich dem Punkt, an dem sie die Oberfläche durchbrechen würde.
    Das Wetter schlug um.
    Tagsüber herrschte jetzt Tauwetter, in den Nächten hingegen war es noch kalt. Eine Woche lang nahm er Stefan Dorflinger jeden Morgen mit aufs Eis hinaus. Es war ein absonderliches Spiel, bei dem er eine Linie hundert Meter von dem Punkt entfernt zog, an dem er die Falluke ins Eis gebohrt hatte. Er brachte ihm das Bohren bei, erklärte ihm die Grundlagen der Seevermessung und ließ ihn selbst das Lot zum Boden hinablassen und Berechnungen anstellen. Er selbst stellte sich als einen Zauberer dar, der hin und wieder eine korrekte Tiefenangabe machte, ehe das Lot auch nur den Boden erreicht hatte.
    Nichts ist so magisch wie das exakte Wissen, dachte er. Der Mann, der sich von seinem deutschen Kriegsschiff davongemacht hatte, war in der schwedischen Winterlandschaft auf einen eigentümlichen Zauberer gestoßen. Einen Mann, der durchs Eis sehen konnte, der Entfernungen messen konnte, nicht mit Hilfe des Lots, sondern durch seine magischen Kräfte.
    Der Deserteur wurde mit jedem Tag ruhiger. Jeden Morgen spähte er aufs Meer hinaus, aber da keine Schiffe zu sehen waren, schien er seine Verfolger zu vergessen.
    Hin und wieder sprach er von seinem Leben. Lars Tobias-son-Svartman stellte vorsichtige Fragen, immer höflich, nie aufdringlich.
    Bald hatte er einen klaren Eindruck.
    Stefan Dorflinger war ein beschränkter junger Mann, ohne Wissen, ohne Interessen. Sein größter Vorzug war seine Angst, die ihn in die Flucht getrieben hatte.
    Sie verbrachten die Vormittage draußen auf dem Eis. Sie bohrten und vermaßen. Hin und wieder konnten sie Sara Fredrika auf den Klippen von Halsskär sehen.
    Am Nachmittag ließ er sie beide allein. Jeden Abend erzählte er Sara Fredrika von den Fortschritten des Soldaten, wie sein Vertrauen zu ihm wuchs.
    »Ich nehme ihn mit, wenn ich zurückgehe«, sagte er. »Ich habe Kameraden, die die deutsche Kriegsmacht verabscheuen und ihm helfen werden. Ich nehme ihn mit, ich schütze ihn. Dann kehre ich zu dir zurück.«
    Ihre Antwort war immer die gleiche. »Das glaube ich nicht. Nicht, bevor ich dich auf dem Eis sehe.«
    »Ich lasse den Feldstecher zurück«, antwortete er. »Dann siehst du mich früher. Dann wird dein Warten kürzer.«
    Jeden Nachmittag zog er sich zurück und machte Notizen in seinem Tagebuch. Er schrieb über den Deserteur.
    Am 17. Februar notierte er:
    Der Tag rückt näher, an dem ich meine Pflicht tun und den entlaufenen deutschen Matrosen gefangennehmen muß, der sich nach Schweden nen, die einen deutschen Angriff auf Schweden planen. Da ich damit rechne, daß er Widerstand leistet, werde ich für alle Eventualitäten planen.
    Er dachte, daß er zugleich in vielen Welten lebte. Alle diese Welten waren in gleichem Maße wahr.
    Der Tag näherte sich. Er wartete auf einen Wetterumschlag.
    Er wartete auf einen kalten Morgen mit Nebel.
    Am 19. Februar, gegen neun Uhr vormittags, sah er durch den Feldstecher die beiden Jäger, Vater und Sohn, übers Eis zum inneren Schärengebiet zurückkehren. Sie passierten weiter südlich und hatten offenbar eine erfolgreiche Jagd gehabt. Sie zogen ein Netz mit toten Vögeln auf dem Eis hinter sich her.
    Dann richtete er

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