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Tiefe

Tiefe

Titel: Tiefe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Henning Mankell
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Katze«, sagte er, als sie sich verabschieden wollten. »Ich habe hier auf der Insel einmal eine Katze gesehen. Aber du hast gesagt, es gäbe keine.«
    »Ich weiß nicht, warum ich gelogen habe. Natürlich gibt es eine Katze. Aber ich weiß nicht, wo sie geblieben ist.«
    »Ich dachte, du solltest es vielleicht wissen«, sagte er. »Stefan Dorfiinger hat sie mit einem Stein erschlagen und aufs Eis geworfen. Er schlug die Katze in einer eigentümlichen Raserei tot. Ich weiß nicht, warum. Aber ich dachte, du solltest es wissen.« Sie antwortete nicht.
    Der Abschied war unbeholfen, ein Handschlag, sonst nichts.
    Er zählte die Schritte bis zweihundert. Dann drehte er sich um. Sie war schon fort. Sie blieb zurück.
Teil 7  DER FANG
    Der Zug blieb mitten auf der Strecke stehen. Sie hatten soeben Äby passiert. Das Bahnhofsgebäude war dunkel, neben den Schienen brannte ein Feuer. Es war Abend, der Wind blies vom Bräviken her. Lars Tobiasson-Svartman befand sich in dem Wagen gleich hinter der Lokomotive. Er saß im Abteil zusammen mit einem Mann, der in einer Ecke fest schlief, den Kopf in einem mottenzerfressenen Pelz verborgen. Er lauschte auf das seufzende Geräusch der Dampflokomotive. Ein Gefühl der Unwirklichkeit überkam ihn: Er würde hier zurückbleiben, der Zug würde nicht mehr weiterfahren. Vor ihm gab es keine Schienen, nur eine unendliche Leere und die Seufzer der Lokomotive.
    Es war der zweite Tag, nachdem er Halsskär verlassen und die Wanderung zum Festland begonnen hatte. Er hatte in dem Geräteschuppen auf Armnö übernachtet. Aber er hatte nicht schlafen können und in der Morgendämmerung seine Wanderung übers Eis nach Gryt fortgesetzt.
    Irgendwo in der Gegend von Kettilö hatte er Gewehrschüsse gehört, zuerst einen, dann noch einen. Sonst verharrte alles in einer reglosen Stille: das Eis, die Inseln, einzelne Vögel.
    In Gryt, am Hang zur Kirche hinauf, hatte er Glück. Ein Auto war auf der Straße vorbeigekommen, er hatte bis nach Valdemarsvik mitfahren können. Der Fahrer hatte während der zwanzig Kilometer langen Fahrt kein einziges Wort geäußert. Das Auto hatte große Rostlöcher, unter Lars Tobias-son-Svartmans Füßen war die Fahrbahn zu sehen.
    Auf dem Rücksitz des Autos lag eine Kinderleiche, ein Mädchen, in eine Decke gehüllt. Erst als sie in Valdemarsvik angekommen waren, fragte er, was vorgefallen sei.
    Der Mann antwortete erschöpft: »Sie hat sich verbrüht. Hat eine Wanne mit kochendheißem Wasser umgekippt. Es ergoß sich auf sie, vom Bauch an abwärts. Sie schrie furchtbar, ehe sie starb. Aber ihr Gesicht ist nicht verbrannt.«
    Das Mädchen lag da, das Gesicht ihm zugewandt.
    Als er später im Zug saß, dachte er weder an Sara Fredrika noch an Kristina Tacker. Er dachte an das Mädchen, das sich verbrüht hatte. Vom Bauch an abwärts war sie gestorben.
    Ein Schaffner kam vorbei.
    Lars Tobiasson-Svartman hatte sich in den Gang zwischen dem ersten und dem zweiten Wagen gestellt und fragte, warum der Zug hielt. Er bemerkte, daß in einer der Uniformtaschen des Schaffners eine Bibel steckte.
    »Es ist die Kälte. Eine Weiche ist eingefroren. Zwei Bahnwärter sind dabei, das Eis aufzutauen. Wir haben fünfundzwanzig Minuten Verspätung.«
    »Neunundzwanzig«, entgegnete Lars Tobiasson-Svartman.
    Kurz nach Mitternacht setzte sich der Zug ruckelnd wieder in Bewegung. Der Mann in der Ecke wachte kurz auf, sah Lars Tobiasson-Svartman verwirrt an und schlief dann weiter.
    Er hatte einen Menschen getötet. Fürchtete er den Tod jetzt weniger als zuvor? Oder war das Gegenteil der Fall?
    Die Stadt empfing ihn mit Schneetreiben und Kälte. Er blieb zusammen mit seinen Säcken und einem Gepäckträger stehen, ohne zu wissen, wohin er wollte. Erst gab er seine eigene Adresse an, überlegte es sich dann anders und nannte den Namen eines kleineren Hotels am Norra Bantorget. Der Gepäckträger verschwand im Schneegestöber, und Lars Tobias-son-Svartman kehrte zum Hauptbahnhof zurück. Im Speisesaal der ersten Klasse bestellte er Frühstück, aber das Essen blieb ihm im Hals stecken, und er mußte auf die Toilette rennen und sich übergeben. Die Kellnerin sah ihn fragend an, als er mit Tränen in den Augen zurückkehrte.
    Sie sieht es, dachte er. Sie sieht, daß ich einen Menschen getötet habe.
    Er zahlte und ging. Die Stadt und das Schneetreiben machten ihn schwindlig im Kopf. Er kam zu dem Hotel, wo der Gepäckträger wartete. Als der Portier sagte, daß alles völlig ausgebucht sei,

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