Tiefe
bekam er einen Wutanfall. Der Portier wurde blaß und gab ihm ein Zimmer, das eigentlich schon reserviert war.
Der Gepäckträger brachte die Säcke hinauf. »So muß man mit diesen Scheißkerlen umgehen«, sagte er und lächelte, als er sein Geld bekam.
Lars Tobiasson-Svartman schloß die Tür, verriegelte sie und legte sich aufs Bett. Es war, als wäre er wieder zum Geräteschuppen auf Armnö zurückgekehrt. Er schloß die Augen und drückte das Lot an die Brust. Niemand wußte, wo er sich aufhielt, niemand wußte, wohin er unterwegs war, am allerwenigsten er selbst.
Es zog vom Fenster her. Er wickelte sich einen Schal um den Kopf, legte sich dicht an die Wand und wartete, ob es ihm gelingen würde, eine Entscheidung zu treffen.
Gegen elf ließ der Schneefall nach. Er stellte sich ans Fenster und schaute auf die Vasagata hinaus. Unter den Fußgängern suchte er jemanden, der er selbst sein könnte.
Er faßte seinen Entschluß. Den Tag und die Nacht über würde er im Hotel bleiben. Dann würde er nach Hause zu Kristina Tacker gehen.
Die Ereignisse auf Halsskär verblaßten langsam. Er betrachtete seine Hände. Da gab es keine Spur von dem, was geschehen war. Die Finger waren glatt und ebenmäßig, seine Hände hatten sich nicht verändert.
Am Abend ging er aus. Es fiel kein Schnee mehr. Aber die Kälte war schneidend und die Stadt lag verlassen; niemand hielt sich freiwillig draußen auf. Am Bahnhof nahm er eine Droschke und ließ sich zum Grand Hotel fahren.
Gerade als er den Speisesaal betrat, drehte sich ein Mann zu ihm um.
Es war sein Schwiegervater, Ludwig Tacker.
Lars Tobiasson-Svartman sah keine Möglichkeit zu entrinnen.
Ludwig Tacker stellte ihn dem Mann in seiner Begleitung vor, Lars Tobiasson-Svartman verstand einen Namen wie Andren. Ludwig Tacker bat den Mann, draußen im Foyer auf ihn zu warten. »Ich habe gestern mit meiner Tochter gesprochen«, sagte er. »Sie war tief beunruhigt, weil du nichts von dir hast hören lassen.«
»Mein Auftrag ist geheimer Natur.«
»So verdammt geheim kann er nicht sein, daß man seiner Frau keinen Gruß schicken kann. Wann bist du zurückgekommen?«
»Ich bin vor etwa einer Stunde in Stockholm angekommen«, erwiderte er. »Ich bin noch nicht zu Hause gewesen.
Erst muß ich einige meiner Vorgesetzten treffen, um einen Bericht vorzulegen.«
Ludwig Tackers Augen waren schmal und kalt. »Im Grand Hotel? Im Speisesaal vom Grand Hotel? Geheime Verhandlungen?«
»Wir treffen uns in einem Nebenraum. Ich wollte nur sehen, ob ich der erste bin.«
Ludwig Tacker musterte ihn abwartend. »Wann gedenkst du, dein Heim und deine Frau aufzusuchen?«
»Ich will sie nicht zu spät stören. Ich übernachte heute im Hotel. Ich kann nicht wie ein Dieb in der Nacht kommen.«
Ludwig Tacker beugte sich rasch näher zu ihm. »Ich glaube dir nicht«, sagte er. »Ich habe dich nie gemocht, nie verstanden, warum Kristina dich zum Mann genommen hat. Du lügst. Es geht ein Geruch von dir aus, irgend etwas stimmt nicht mit dir.«
Ludwig Tacker wartete die Antwort nicht ab, sondern verließ den Speisesaal. Lars Tobiasson-Svartman begab sich zu Grands Cafe und fing an zu trinken* Sein Schwiegervater hatte ihn durchschaut. Nun mußte er seine Erklärung wiederholen, wenn er Kristina Tacker am nächsten Tag sah.
Er würde ihr alles erklären, sich dafür entschuldigen, daß er im Hotel übernachtet hatte, und dann ganz ruhig an ihrer Seite sitzen. Sie würde erzählen, was in der Zeit seiner Abwesenheit geschehen war. Er würde zuhören, und über seine Expedition in die fernen Eisweiten am offenen Meer würde er nur sagen, daß er froh war, alles hinter sich zu haben.
I
n dieser Nacht träumte er von einer großen Tiefe. Er hielt sein Lot in den Händen wie ein Gewicht und sank durch ein Meer, in dem sich der Wasserdruck nicht bemerkbar machte, obwohl er sich mehrere Kilometer unter der Oberfläche befand.
Es war nicht der Riß im Stillen Ozean, wo ein britisches Meßschiff angeblich eine Lotleine über zehn Kilometer tief hatte verschwinden sehen, ehe sie den Meeresboden erreichte. Es war eine unbekannte Tiefe, die er entdeckt hatte, und schon während er mit dem Lot in den Händen langsam hinabsank, wußte er, daß sich der Meeresboden auf 15 345 Metern befand. Es war eine schwindelnde Tiefe, und darin verbarg sich ein Geheimnis. Ganz da unten gab es eine Welt und ein Leben, die dem entsprachen, was er selbst lebte.
Er sank der Tiefe entgegen, sacht, ganz ruhig, ohne Eile.
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