Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
gleißende Helle. Spontan regte sich sein schlechtes Gewissen, so spät noch in den Federn zu liegen. Er hatte Urlaub, beruhigte er sich. Sein Blick fiel auf die Uhr auf dem Nachtschrank. Er erschrak. Maria sollte um elf Uhr kommen.
Er sprang aus dem Bett und machte hastig Morgentoilette. Auf eine Rasur verzichtete er heute. Er liebte es, in den Ferien mit einem Fünf-Tage-Bart herumzulaufen. Er musste seiner Gesichtshaut ab und zu die tägliche Strapaze einer Rasur ersparen, bequatschte er sich selbst. Aus Gesundheitsgründen war schließlich vieles erlaubt, was die Ästhetik und der Respekt vor seinen Mitmenschen eigentlich verboten.
Er war noch dabei, in die Hosen zu steigen, als draußen schon laut an der Haustür geklopft wurde. Er beeilte sich und öffnete. Auf der Schwelle standen Tiny und eine Frau, deren Alter schwer abzuschätzen war. Sie beeindruckte ihn auf der Stelle. Sie war nicht groß, sehr hager und sehnig. Das konnte er selbst durch ihr unkleidsames, graues Kittelkleid erkennen. Ihr Outfit spielte im Übrigen für ihr Erscheinungsbild sowieso keine Rolle. Ihr Gesicht dominierte ihre Person. Es war auf eine herbe Art schön, durch lange Jahre harter Arbeit in der Sonne zu einer auffälligen Klasse modelliert. Farbe hätte in ihrem Gesicht nur albern gewirkt. Sie hatte ein energisches Kinn, eine schmale, gerade Nase und tiefliegende, dunkle Augen unter kräftigen, schwarzen Brauen. Ihre kurzen, sorgfältig gekämmten schwarzgrauen Haare legten sich anmutig um ihren hübschen Kopf. Der Kontrast zwischen der Härte ihrer Gesichtszüge und der Anmut ihres kräftigen Haarschopfes ließ sie auf eine Respekt gebietende Art besonders erscheinen.
Jung war von ihrem Anblick fasziniert. Ihre Fremdartigkeit irritierte ihn, und dennoch freute er sich darauf, sie die nächsten Stunden im Haus zu haben. Was hatte Tiny eigentlich daran gehindert, sie nach ihrem Alter oder ihren Familienverhältnissen zu fragen? Wie hatte er überhaupt herausgefunden, dass sie nicht lesen und schreiben konnte?
»Hallo, Tomi. Hier bringe ich dir Maria.«
»Bom dia, Senhora. Ich bin Tomas Jung.« Er reichte ihr die Hand. Ihre Hand war warm und ihr Händedruck kräftig.
»Bom dia, Senhor Jung.« Sie sah ihm in die Augen. Ihre Stimme war klar, aber etwas hoch und leicht nasal, der Klang eine Mischung aus Schüchternheit und Unnachgiebigkeit.
»Maria kennt sich im Haus aus, Tomi. Viel Spaß. Wir sehen uns heute Abend. Bis dann!«, verabschiedete sich Tiny hastig.
»Bis heute Abend. Danke, Tiny«, erwiderte Jung. »Kommen Sie herein, Senhora. Möchten Sie einen Kaffee?« Er lud sie mit einer einladenden Geste ins Haus. Jung machte sich erschreckend bewusst, dass sie ihn vielleicht gar nicht verstand.
»Obrigado, Senhor Jung. Um Café faz muito bem. Ja, danke sehr«, erwiderte sie und trat ein. Ihr Akzent verstärkte ihre fremdartige Aura. Jung war erleichtert, dass sie Deutsch zu verstehen schien, jedenfalls so viel wie nötig, um eine simple Verständigung zu ermöglichen.
In der Küche machte er sich daran, den Kaffeeautomaten in Gang zu setzen. Maria war hinter ihn getreten und nahm ihm die Filtertüten wortlos aus der Hand. Mit einer energischen Geste wies sie ihn an, sich zu setzen.
»Eu fazo o Cafe«, sagte sie deutlich, »vocé schreiben, o que precisa para essen und trinken. Ich kaufen, comprehende?«
Ja, er hatte verstanden. Er holte sich einen Stift und Papier aus der Küchenschublade und schrieb auf, was er in den nächsten Tagen nötig zu haben glaubte.
Er sah ihr zu, wie sie sich geschickt und sicher an der Kaffeemaschine zu schaffen machte. Schließlich wandte sie sich um und sagte: »Entao, o cafe esta pronto, Senhor Tomas.« Sie holte zwei Kaffeebecher aus dem Schrank und stellte sie auf den Küchentisch. Sie bewegte sich so, als arbeitete sie schon seit Jahren hier.
»Obrigada, Senhora Maria. Ich darf Sie doch Maria nennen, nicht wahr?«
»Naturalmente, Senhor Tomas. E agradavel para min. Ich freue mich.«
Sie schenkte den Kaffee in die Becher und setzte sich ihm gegenüber an den Tisch.
»É bom. Gut«, sagte sie nach dem ersten Schluck und sah Jung an, als erwarte sie von ihm ebenfalls einen Kommentar.
»Sehr gut, Maria. Ich mag Ihren Kaffee.«
Sie nickte, aber nicht selbstgefällig, sondern so, als hätte sie nichts anderes erwartet, weil sie nichts anderes kannte. Sie nahm mit energischem Griff seinen Zettel auf und hielt ihn sich vors Gesicht, als wolle sie darin lesen. Dazu holte sie eine
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