Tiefflug: Der vierte Fall für Kommissar Jung (German Edition)
warmes Plätzchen zum Schlafen gesucht hatte, war neben ihm das einzige Lebewesen in der bedrückenden Stille. Auch hinter dem aus dunklem Edelholz gefertigten Empfangstresen konnte er niemanden entdecken. Eine Klingel, wie man sie an den Rezeptionen vieler Hotels fand, gab es nicht. Jung blieb unschlüssig stehen. Er sah sich suchend um. Als wenn ihn jemand aus einem sicheren Versteck beobachtet hätte, öffnete sich im Hintergrund eine angelehnte Tür. Eine junge Frau stand im Türrahmen.
Ihr Erscheinen glich eher einem Auftritt, der jedoch nicht geplant oder inszeniert wirkte. Sie trug ein ähnliches Outfit, wie Jung es heute an Rosa schon einmal gesehen hatte. Sie glich ihr auch ansonsten, nach Typus und Art, und hätte dem gleichen Genpool entstammen können. Nur waren die Reize ihrer Weiblichkeit so verfeinert und optimiert, dass sie Jungs erotische Fantasien nicht nur augenblicklich erregten, sondern ihnen einen brutalen Stoß versetzten. Sie war von einer Klasse, die Männer auf der Stelle und unter Ausschaltung jeglichen Verstandes sexuell stimulierte, automatisch sozusagen. Vor seine Augen schob sich, ohne dass er es verhindern konnte, eine Phantasmagorie, ein Märchen, aus dem sie, in edle Dessous gekleidet, verheißungsvoll auf ihn zuschritt. Er war sofort bereit, über den Tresen zu setzen und ihr entgegenzueilen.
Ihm wurde schnell und schmerzlich bewusst, dass sein Alter ihn daran hinderte, überhaupt über irgendetwas zu setzen, schon gar nicht über einen ziemlich hohen Tresen. So blieb er stehen und machte ein schmerzhaft-dummes Gesicht. Die junge Frau lächelte ihn freundlich an.
»Boa tarde.« Ihre Stimme versetzte ihm einen zweiten entwaffnenden Schlag. »O que posso fazer para si?«
Er blieb stumm. Jung verstand ihre Frage nur zu gut. Oh ja, sie konnte etwas für ihn tun, wenn sie auch nicht wissen konnte, was. Oder doch? Sie musste schon öfter männliche Reaktionen dieser Art durchlitten haben, schoss es Jung durch den Kopf. Er schämte sich seiner Lüsternheit.
»Boa tarde«, raffte er sich auf. »Rosa hat mich an Sie verwiesen, wenn ich etwas brauchen sollte.«
»Ach ja, wirklich? Rosa ist meine Freundin«, fuhr sie emphatisch fort. Sie hatte zu Deutsch gewechselt, als gäbe es keinen Unterschied zu Portugiesisch. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich brauche ein Taxi nach Hause«, antwortete er unbeholfen.
»Wenn es weiter nichts ist, kein Problem«, lachte sie.
Jung begann, sich unter ihrem Lachen zu entspannen und die Situation zu genießen.
»Ich heiße übrigens Amalia. Sie können mich ruhig bei meinem Vornamen nennen. Wohin wollen Sie?«
»Danke, Senhora Amalia. Nach Carvoeiro.« Ihr Name schmeckte ihm auf den Lippen wie eine ungewohnte Köstlichkeit. »Ich heiße Tomas Jung.«
»Dann sind Sie der Mann von Senhora Jung, nicht wahr? Ich habe mich lange mit ihr unterhalten. Sie hat mir von Ihnen und Ihrem Nachbarn erzählt. Ich hoffe, Sie können jetzt wieder gemeinsam in das Haus, Herr Jung.«
»Oh, hat Sie Ihnen das erzählt?«, zeigte sich Jung überrascht. »Noch ist es nicht so weit, leider. Sie weiß nicht, dass ich hier bin. Ich will deswegen allein zurück nach Carvoeiro.«
»Ich verstehe«, erwiderte sie verständnisvoll. »Wenn Sie wollen, kann ich Sie mitnehmen.«
»Ja, sehr gern«, sprudelte es Jung über die Lippen, bevor er sich bremsen konnte. Dann fragte er vorsichtig: »Sind Sie denn frei?«
»Meine Arbeit endet in einer halben Stunde.« Sie lachte. »Ich wohne in Portimao. Wir kommen sozusagen an Carvoeiro vorbei.«
»Ich möchte Ihnen auf keinen Fall Umstände machen, Senhora Amalia«, versicherte Jung ohne großen Nachdruck.
»Das geht in Ordnung. Ich freue mich, wenn ich Freunden von Rosa einen Gefallen tun kann.«
»Als Dankeschön lade ich Sie zum Essen ein. Sie dürfen nicht Nein sagen, das würde mich beleidigen«, erwiderte Jung, sichtlich um Charme und Lockerheit bemüht.
»Gern, Herr Jung.«
Jung glaubte, Vorfreude auf einen netten Abend aus ihrer Antwort herausgehört zu haben. Er erinnerte sich an Tinys Restaurantempfehlung und fuhr fort: »Wie wäre es, wenn wir in Albufeira, im No. 54, zu Abend essen würden?« Im selben Augenblick fiel ihm siedend heiß ein, dass er noch nie dort gewesen war und er nicht wusste, wie er dahin finden sollte.
Er wurde schnell aus seiner Verlegenheit befreit. Amalia brach in helles Lachen aus und erwiderte: »Von wem haben Sie denn diesen Tipp?«
»Wieso, stimmt daran etwas nicht?«
»Ich würde es
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