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Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall

Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall

Titel: Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Roman Rausch
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ein Oberkörper und der Hals eines Eingeborenen. Bevor er sich an das Gesicht machte, griff er hinter sich und zog einen Stapel Papiere zu sich her, die wie Tapetenabfall anmuteten. Er blätterte hastig die einzelnen, rund ein bis zwei Quadratmeter großen Fetzen durch. Der frische Putz erlaubte kein Zögern oder Sinnieren.
    Die Skizzen zeigten mit Kohlestift gezeichnete exotische Tiere, Pflanzen, Körper und selbst gebaute Speere und Äxte. Auf einem waren die Umrisse eines Tieres zu sehen, das auf einem Ast saß und genüsslich ein Blatt im Maul zerkaute. Es blickte nichts ahnend in die Augen des Betrachters. Dahinter stellte sich jemand an, einen Bogen zu spannen.
    Er stieß auf eine Skizze, die den Kopf eines Mannes zeigte. Er hatte eine breite Nase, wulstige Augenbrauen und krauses Haar. Er zog den Fetzen aus dem Stapel hervor, legte ihn auf den frischen Putz und zog mit Hilfe der Feder die Linie des Kopfes entlang, die sich in den Putz drückte.
    Als er das Gesicht vollkommen abgebildet hatte, entfernte er den Fetzen, griff zum Pinsel und füllte die Konturen. Während er, auf dem Rücken liegend, in die Augen der fremden, soeben zum Leben erweckten Gestalt starrte, überkam ihn Zufriedenheit. Er schloss die Augen, atmete tief ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

12
    Der Mann an der Rezeption wünschte Kilian einen guten Morgen. Er ging an ihm vorüber, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Durch die Drehtür konnte er nichts sehen als eine Wand von gleißendem Licht. Er kniff die Augen zu, kramte nach der Sonnenbrille und setzte sie auf. Das Halbdunkel verschaffte ihm Erleichterung. Die Stille, die die Lobby zu dieser morgendlichen Stunde verbreitete, wäre das Richtige gewesen, um in aller Ruhe einen Espresso zu trinken und zu schweigen.
    Das Telefon an der Rezeption läutete. Für ihn war es das Hämmern eines Maschinengewehres, das in seinem Kopf hallte und tausendfach zurückgeworfen wurde.
    Er trat hinaus ins Freie. Das Licht traf ihn wie ein Blitz. Der Lärm der anfahrenden Autos an der Kreuzung zum Röntgenring war das Grollen von angreifenden Panzern und überfliegenden Jagdbombern. Und Kilian stand mittendrin. Er fasste sich an die Stirn und spürte, wie es hämmerte, donnerte und drohte, ihn zu zersprengen. Ein Taxi war nicht in Sicht. Er entschloss sich, den Fußweg zu nehmen, um dieser Kriegsmaschinerie zu entkommen.
    Je weiter er auf der Friedensbrücke vorwärts kam, die erst in Kürze wieder für den Verkehr geöffnet werden sollte, desto schwächer wurde das Dröhnen im Hintergrund. Vor ihm arbeiteten Bauarbeiter an den Grundfesten der Straße. Sie hackten mit Pickeln den Kies auf, schoben Steine zur Seite und besprachen, was als Nächstes zu tun sei.
    Als er die Mitte der Brücke erreichte, machte er Halt, lehnte sich auf das Geländer und schaute den Main entlang. Ein paar hundert Meter entfernt überspannte die alte Mainbrücke den Fluss, in dem sich die Morgensonne glitzernd brach. Ein Ruderboot, das geradewegs auf ihn zusteuerte, teilte das Wasser wie ein Skalpell sanft in zwei Teile. Die Wunde schloss sich nicht, sondern verschwand im Nichts, je weiter das Boot sich entfernte. Am Ende war alles wie zuvor. Das Kommando des Steuermannes wurde lauter, hallte mit dem Eintauchen der Paddel unter der Brücke wider, bis es sich verflüchtigte und nur noch in der Ferne zu erahnen war.
    Der Friede ging im mörderischen Zischen eines Dampfstrahlgerätes unter, das von einem Bauarbeiter zur Oberflächenreinigung eingesetzt wurde. Der feine Nebel wurde vom Wind quer über die Fahrbahn getragen. In ihm flimmerten kleine Sterne, die allmählich mainabwärts zogen. Gerne hätte er sich angeschlossen.
    Als er ins Büro kam, überraschte er Heinlein, der mit einer Schere seine Fingernägel bearbeitete.
    »Morgen«, sagte Kilian zu ihm und setzte sich an seinen Platz.
    Heinlein ließ seine Hände unter dem Tisch verschwinden und blickte auf. Beim Nägelschneiden ertappt zu werden war nun einmal peinlich.
    »Morgen«, sagte er mit einem aufgesetzt freundlichen Lächeln. »Wie geht’s?«
    Kilian gab ihm keine Antwort. Er rückte die Sonnenbrille zurecht und nahm die Notizen zur Hand, die ihm Sabine hingelegt hatte – Fotos für den neuen Dienstausweis machen lassen, Personalbogen ausfüllen, Antrag auf Zuweisung einer Dienstwohnung, Rosenthal zurückrufen und zuallererst: bei Oberhammer melden! Kilian schob die Zettel von sich, wollte nichts davon wissen.
    »Wie geht es Ihnen?«, fragte er

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