Tiepolos Fehler: Kommissar Kilians erster Fall
Heinlein, der noch immer auf eine Antwort wartete.
»Gestern Abend waren wir bereits beim Du.«
»Ah ja.«
Kilian erinnerte sich. Doch die Erinnerung war mühsam und mit Schmerzen verbunden. Er fasste sich an die Stirn, die ihm so breit wie ein Fußballfeld vorkam. »Also, wie geht’s dir?«
»Weißt du nicht mehr?«, fragte Heinlein und wies mit einem Kopfnicken zum Fenster hinaus.
Kilian überlegte, rätselte, was dieser Hinweis zu bedeuten habe. Er zuckte ahnungslos mit den Schultern. »Keine Ahnung. Filmriss.«
Heinlein hielt sich die gespreizte Hand vors Gesicht. Rosarote Farbe hatte sich hartnäckig zwischen den Ritzen der Haut festgesetzt. Über normal ausgeformte Fingernägel verfügte Heinlein zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Er hatte sie bis aufs Nagelbett gestutzt.
»Fragen Sie nicht, ’tschuldigung, frag nicht, was es mich gekostet hat, heute Morgen an meiner Claudia vorbeizukommen, ohne dass sie was bemerkt«, sagte Heinlein.
»Die Klamotten hab ich bereits letzte Nacht verschwinden lassen. Bis vor einer Stunde saß ich noch in der Badewanne und hab mir mit Terpentin und einer Bürste die Haut vom Körper geschrubbt.«
Heinlein zog zum Beweis die Ärmel hoch. Sein Unterarm war krebsrot aufgeschwollen, kein einziges Haar zierte mehr das geschundene Fleisch.
Jetzt fiel es Kilian wieder ein. Ja, stimmt, da war ja noch die Brücke. Da waren Löwen, und da war Heinlein, der, mit Farbe und Pinsel bewaffnet, auf einem geritten war. Oder waren es zwei? Egal. Er ritt den bayerischen Löwen, grölte und drohte in den Main zu stürzen.
»O Mann«, stöhnte Kilian. Er lehnte sich nach vorne und stütze seinen Brummschädel auf beide Hände. »Und ich dachte, das war alles nur …«
»Nee«, antwortete Schorsch, »das war alles ganz real. Ich bin gespannt, ob irgendeiner was davon mitbekommen hat.«
Bevor Kilian sich noch mehr anhören musste, drang vom Gang ein Türenschlagen und Gebrüll herein.
»Oje«, beschwor Heinlein das aufziehende Unwetter.
Er lehnte sich nach vorne, vergrub seine Hände wieder unter dem Schreibtisch und hoffte darauf, dass der Kelch an ihrer Tür vorübergehen möge. Doch nein, die Flüche wurden lauter und bedrohlicher.
Schnaubend kam Oberhammer ins Zimmer. Sein Gesicht war hochrot angeschwollen.
»Verbrecher, Terroristen, ehrloses Gesindel«, schrie er.
»Eine einzige Horde Verbrecher.«
»Wen oder was meinen Sie?«, wagte Kilian zu fragen, der sich ob des Geschreis an seinen schmerzenden Kopf fasste.
»Wer oder was?«, brüllte Oberhammer zurück. »Des dahergelaufene Pack, des ausg’schamte.«
»Wen, zum Teufel, meinen Sie?«, fragte Kilian genervt. Oberhammer schoss auf ihn zu und baute sich vor ihm auf.
»Da fragt der noch? Na, was wohl? Die Löwen! Die Löwen von unserem König natürlich.«
»Welcher König?«, reizte Kilian Oberhammer bis zur Weißglut.
»Haben Sie denn überhaupt nichts gelernt? Die Löwen, die unser König Ludwig gesegnet hat.«
»Gesegnet?«, giftete Heinlein dazwischen.
»Als Zeichen der Erinnerung …«, führte Oberhammer fort.
»An Bayern«, führte Heinlein den Satz zu Ende.
»An das Königshaus, an die Kultur, an die … neuen Bayern.« Oberhammer sprach die »neuen Bayern« aus, als handele es sich um ein heimatloses Pack, das froh sein durfte, in einem
Atemzug mit den alten und wahren Bayern genannt zu werden. Heinleins Einwurf hatte Oberhammers Aufmerksamkeit erregt. »Was ist mit Ihnen los? Haben Sie Kreuzprobleme, oder wieso sitzen Sie so krumm da?«
Heinlein schluckte. Oberhammer hatte was gemerkt.
»Verstecken Sie da unten was?« Oberhammer kam näher. Heinleins Herz pochte bis zum Hals. Er hielt die Fäuste eisern geballt und drückte die Unterarme fest gegeneinander. Der Metallverschluss seiner Uhr drückte ihm ins Fleisch. Die Uhr. Genau, er brauchte eine Ablenkung. Er streifte sie eilends ab und warf sie von unten über die Tischkante auf den Tisch.
»Das Mistding zwickt mich schon die ganze Zeit«, sagte er mit schmerzverzogener Miene.
Oberhammer nahm sie und betrachtete sie. Auf dem Zifferblatt las er Rolex.
»Bezahl ich Sie zu gut, oder wo haben Sie die mitgehen lassen?«
»Mitgehen lassen« war das richtige Wort. Claudia hatte sie ihm zum Geburtstag geschenkt. Die Quelle wollte sie nie preisgeben, das gehöre sich nicht. Nachdem das gemeinsame Konto aber keinen höheren Fehlbetrag aufgewiesen hatte, tippte er auf Erich, seinen Freund, Busfahrer und Marketender. Da war es angebracht, keine dummen Fragen
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