Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tierarzt

Tierarzt

Titel: Tierarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
Vom Netzwerk:
achtzig und lebt ganz allein. Ich habe gerade von der Post ihre Rente geholt.«
    Sie führte mich in ein kleines Wohnzimmer. »Hier, meine Liebe«, sagte sie zu der alten Frau, die in der Ecke saß. Sie legte einen Zettel und das Geld auf das Kaminsims. »Mr. Herriot ist gekommen, um nach Peter zu sehen.«
    Mrs. Tompkin nickte lächelnd. »Oh, das ist schön. Der arme kleine Kerl, er kann kaum fressen mit dem langen Schnabel. Ich sorge mich um ihn. Er ist ja meine einzige Gesellschaft.«
    »Ja, das verstehe ich sehr gut, Mrs. Tompkin.« Ich blickte auf den Käfig beim Fenster, in dem ein grüner Wellensittich saß.
    »Diese kleinen Vögel können wirklich sehr unterhaltend sein, wenn sie anfangen zu schwatzen.«
    Sie lachte. »Ja, aber es ist komisch. Peter hat nie viel gesagt. Ich glaube, er ist einfach zu faul dazu! Aber ich hab ihn gerne um mich.«
    »Das glaube ich«, sagte ich. »So, und nun wollen wir uns einmal seinen Schnabel ansehen.«
    Der Schnabel war viel zu lang gewachsen, bog sich so weit nach unten, daß er fast die Brustfedern berührte. Mit einem einzigen raschen Schnitt meiner Schere würde ich das Leben dieses Wellensittichs von Grund auf verändern. In meiner augenblicklichen Gemütsverfassung war dies genau die richtige Arbeit für mich.
    Ich öffnete die Tür des Käfigs und schob behutsam die Hand hinein.
    »Komm, Peter, komm«, sagte ich schmeichelnd, als der Vogel ängstlich zu flattern begann. Kurz darauf hatte ich ihn in die Enge getrieben und konnte mit den Fingern sanft den kleinen Körper umfassen. Während ich ihn mit der einen Hand heraushob, tastete ich mit der anderen nach meiner Schere. Aber als ich sie gerade ansetzen wollte, hielt ich inne.
    Der kleine Kopf schaute nicht mehr keck zwischen meinen Fingern hervor, sondern war schlaff zur Seite gefallen. Die Augen waren geschlossen. Ich starrte den Vogel einen Augenblick verständnislos an, dann öffnete ich die Hand. Bewegungslos lag er auf meiner Handfläche. Er war tot.
    Starr vor Schreck sah ich noch eine Weile auf ihn hinunter: auf das farbenprächtig schillernde Gefieder, den langen Schnabel, den ich jetzt nicht mehr zu beschneiden brauchte, aber vor allem auf das winzige Köpfchen, das über meinen Zeigefinger herabhing. Ich hatte den kleinen Vogel nicht gedrückt und war bestimmt nicht grob mit ihm umgegangen, aber er war tot. Es muß reine Angst gewesen sein.
    Mrs. Dodds und ich wechselten einen entsetzten Blick; ich wagte kaum, den Kopf nach Mrs. Tompkin umzuwenden, doch als ich es tat, sah ich zu meinem Erstaunen, daß sie noch immer nickte und lächelte.
    Ich zog ihre Nachbarin zur Seite. »Mrs. Dodds, wieviel kann sie sehen?«
    »Oh, sie ist stark kurzsichtig, aber sie ist trotz ihres Alters sehr eitel. Will keine Brille tragen. Außerdem ist sie schwerhörig.«
    »Hören Sie«, sagte ich. Mein Herz hämmerte immer noch. »Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Es wird ein schwerer Schock für sie sein, wenn ich ihr sage, was geschehen ist. Ich wage nicht, mir auszudenken, was das für Folgen haben könnte.«
    Mrs. Dodds nickte mit bekümmertem Gesicht. »Ja, Sie haben recht. Sie liebt den kleinen Vogel abgöttisch.«
    »Aber vielleicht gibt es eine Lösung«, flüsterte ich. »Wissen Sie, wo ich hier im Ort einen Wellensittich finden könnte?«
    Mrs. Dodds überlegte einen Augenblick. »Versuchen Sie es bei Jack Almond am Südende der Stadt. Ich glaube, er züchtet Vögel.«
    Ich räusperte mich, brachte aber selbst jetzt nur ein heiseres Krächzen hervor. »Mrs. Tompkin, ich muß Peter mit in die Praxis nehmen, und ihm dort den Schnabel stutzen. Es dauert nicht lange.«
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, rannte ich, den Käfig in der Hand, hinaus. Es dauerte keine fünf Minuten, da klopfte ich an Jack Almonds Tür.
    »Mr. Almond?« fragte ich den pausbäckigen, untersetzten Mann, der mir aufmachte.
    »Jawohl. Womit kann ich dienen?« fragte er mit sanftmütigem Lächeln.
    »Züchten Sie Vögel?«
    »Ja, das tue ich.« Er richtete sich würdevoll auf. »Ich bin Präsident der Darrowby and Houlton Cage Bird Society.«
    »Gut«, sagte ich eifrig. »Haben Sie wohl einen grünen Wellensittich?«
    »Ich habe Kanarienvögel, Wellensittiche, Papageien, Kakadus...«
    »Ich möchte nur einen Wellensittich.«
    »Nun, ich habe Albinos, blaugrüne, blaugraue, gelbe...«
    »Einen grünen, bitte.«
    Er setzte eine düstere Miene auf; offensichtlich gefiel ihm meine Hast nicht.
    »Na schön... sehen wir sie uns an«, sagte er.
    Ich

Weitere Kostenlose Bücher