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Tierarzt

Tierarzt

Titel: Tierarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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und wenn ich ein volles Wartezimmer sah, überkam mich jedesmal eine freudige Erregung, die sich jedoch rasch legte.
    Und das Drängeln und Schieben nahm noch zu, als sie eines Tages dazu übergingen, auch ihre Tante, Mrs. Pounder, mitzubringen, damit sie sich selbst davon überzeugen konnte, was für ein netter Mensch ich war. Mrs. Pounder, eine korpulente Dame, die immer einen speckigen Velourshut trug, war offensichtlich ebenso fruchtbar wie ihre Verwandten und hatte meistens einen Teil ihrer eigenen stattlichen Nachkommenschaft bei sich.
    So war es auch an diesem Vormittag. Ich ließ meinen Blick von einem zum anderen schweifen, konnte jedoch nur lächelnde Dimmocks und Pounders entdecken; selbst mein Patient war nirgends zu sehen. Aber dann rückten alle wie auf ein verabredetes Signal auseinander, und ich sah Nellie Dimmock mit einem kleinen jungen Hund auf den Knien.
    Nellie war mein erklärter Liebling. Wohlgemerkt, ich mochte die ganze Familie; sie alle waren so nett, daß ich mich nach der ersten Enttäuschung stets aufrichtig über ihren Besuch freute. Vater und Mutter waren immer höflich und gut gelaunt, und die Kinder, wenn auch lärmend, waren niemals unartig oder frech; es waren wohlerzogene, lebensfrohe Kinder, und wenn sie mich auf der Straße sahen, winkten sie eifrig und hörten nicht eher damit auf, als bis ich außer Sicht war. Ich begegnete ihnen häufig in der Stadt, denn sie waren ständig unterwegs, trugen Milch und Zeitungen aus oder was es sonst zu tun gab. Und vor allem: sie liebten ihre Tiere und sorgten vorbildlich für sie.
    Doch die kleine Nellie war mein erklärter Liebling. Sie war etwa neun Jahre alt und hatte als kleines Kind Kinderlähmung gehabt. Seither hinkte sie stark und war im Gegensatz zu ihren robusten Geschwistern von zarter Gesundheit. Ihre Beinchen waren erschreckend dünn und wirkten so zerbrechlich, daß man sich fragte, wie sie die Last des Körpers zu tragen vermochten, aber das kleine, schmale Gesicht wurde von goldblondem Haar umrahmt, das ihr in weichen Wellen bis auf die Schultern fiel, und ihre klaren blauen Augen blickten, wenn auch leicht schielend, ruhig und zufrieden in die Welt.
    »Na, Nellie, was hast du denn da?« fragte ich.
    »Einen kleinen Hund«, erwiderte sie fast flüsternd. »Er gehört mir.«
    »Dir ganz allein?«
    Sie nickte stolz. »Ja, er gehört mir.«
    »Und nicht auch deinen Brüdern und Schwestern?«
    »Nein, nur mir.«
    Alle Köpfe nickten bestätigend, während Nellie den jungen Hund an ihre Wange hob und mit sanftem Lächeln zu mir aufblickte – ein Lächeln, das mir jedesmal einen Stich gab: es spiegelte das arglose Glück und Vertrauen eines Kindes wider und verriet doch etwas von den heimlichen Qualen dieses nicht ganz gesunden kleinen Wesens.
    »Scheint aber ein feiner Hund zu sein, Nellie!« sagte ich. »Ein Spaniel, nicht wahr?«
    Sie strich mit der Hand über den kleinen Kopf. »Ja, ein Cocker. Mr. Brown sagt, er ist ein Cocker.«
    Ein leichtes Rumoren im Hintergrund, dann tauchte Mr. Dimmock aus dem Gedränge auf. Er hüstelte respektvoll.
    »Er ist ein richtiges reinrassiges Tier, Mr. Herriot«, sagte er. »Die Hündin von Mr. Brown hat Junge gehabt, und er hat Nellie eins davon geschenkt.« Er klemmte seinen Stock unter den Arm, zog ein langes Kuvert aus der Tasche und reichte es mir mit gewichtiger Miene. »Hier der Stammbaum.«
    Ich las die Urkunde durch und stieß einen leisen Pfiff aus. »Ein echter blaublütiger Jagdhund. Alle Achtung! Und einen schönen langen Namen hat er auch, wie ich sehe. Darrowby Tobias der Dritte. Klingt ungemein großartig.«
    Ich wandte mich wieder dem kleinen Mädchen zu. »Und wie nennst du ihn, Nellie?«
    »Toby«, sagte sie leise. »Ich nenne ihn Toby.«
    Ich lachte. »Sehr schön. Und was fehlt Toby? Warum bringst du ihn mir?«
    »Er übergibt sich dauernd, Mr. Herriot.« Mrs. Dimmocks Stimme kam von irgendwoher aus dem Gewühl. »Behält nichts bei sich.«
    »Oh, dann kann ich mir denken, woran das liegt. Ist er entwurmt worden?«
    »Nein, ich glaube nicht.«
    »Vielleicht braucht er lediglich ein Wurmmittel«, sagte ich. »Aber kommen Sie mit ins Sprechzimmer, damit ich ihn mir genauer ansehen kann.«
    Bei anderen Tierbesitzern kam für gewöhnlich eine Person mit dem Patienten ins Sprechzimmer, aber bei den Dimmocks marschierten alle mit. Unser Sprechzimmer, das wir gleichzeitig auch für Operationen benutzten, war ziemlich klein, aber irgendwie fanden wir ein Plätzchen; selbst Mrs.

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