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Tierarzt

Tierarzt

Titel: Tierarzt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Herriot
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Entschuldigung.«
    »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen, Siegfried. Es kommt mir, wie Sie sich denken können, sehr gelegen.«
    »Gut, gut, der Scheck liegt in der obersten Schreibtischschublade. Sie können ihn morgen an sich nehmen.« Er machte eine lässige Handbewegung und wechselte das Thema. Er erzählte mir von den Schafen, die er am Nachmittag untersucht hatte.
    Doch ich hörte ihm kaum zu. Fünfzig Pfund! Das war damals eine Menge Geld, zumal ich, wenn in Kürze meine Ausbildungszeit bei der Air Force begann, ganze drei Shilling pro Tag bekommen würde. Siegfrieds Scheck löste zwar nicht meine finanziellen Probleme, aber er war ein hübsches kleines Polster für eventuelle Notfälle.
    Ich bin leider ein wenig schwer von Begriff, und so kapierte ich erst nach vielen Jahren, daß es nie eine Schuld von fünfzig Pfund gegeben hatte. Siegfried hatte nur gemerkt, daß ich etwas Hilfe brauchte, und als mir das sehr viel später alles klar wurde, erkannte ich, mit wieviel Feinfühligkeit er die Sache gehandhabt hatte. Er hatte mir jede Peinlichkeit erspart und den Scheck diskret in die Schublade gelegt...
    Während die Flasche sich langsam leerte, wurde unsere Unterhaltung immer ungezwungener. Ab einem gewissen Zeitpunkt sah ich auf einmal alles mit fast unheimlicher Klarheit – es war, als ob ein Teil von mir außerhalb meiner selbst stünde und uns beobachtete. Den Kopf bequem auf die Rückenlehne gestützt, die Beine weit ausgestreckt, saßen wir in unseren Sesseln. Das Gesicht meines Partners schien plastisch hervorzutreten, und mir fiel auf, daß er, obwohl erst Anfang der Dreißig, viel älter wirkte. Es war ein anziehendes Gesicht, schmal, starkknochig, mit ruhigen, humorvollen Augen, aber es war kein junges Gesicht. Siegfried hatte, solange ich ihn kannte, immer älter ausgesehen, als er war, doch das gereicht ihm heute zum Vorteil, denn er hat sich mit den Jahren kaum verändert und gehört zu den Menschen, denen man ihr Alter nicht ansieht.
    Wie schön wäre es gewesen, wenn Tristan in diesen nächtlichen Stunden, wo alles voll Harmonie und Herzlichkeit war und ich mich allwissend fühlte, auch da gewesen wäre, um das vertraute Trio komplett zu machen. Wie ein Streifen bunter Bilder liefen die Erinnerungen durch den Raum: Ich dachte an Novembertage, an denen der eisige Wind uns ins Gesicht schlug, an die unzähligen Male, wo wir den Wagen aus Schneewehen herausschaufeln mußten, an die Frühlingssonne, die das winteröde Land erwärmte. Und ich wußte, daß ich Tristan genauso vermissen würde wie seinen Bruder. Er war ein Bestandteil meines Lebens geworden.
    Ich traute meinen Augen nicht, als Siegfried sich erhob, die Vorhänge aufzog und das graue Licht des Morgens ins Zimmer strömte. Etwas steif stand ich aus meinem Sessel auf und ging zu ihm hinüber. Er sah auf seine Armbanduhr.
    »Fünf Uhr, James«, sagte er lächelnd. »Wir haben es wieder einmal geschafft.«
    Er öffnete die große Glastür, und wir traten in das tiefe Schweigen des Gartens hinaus. Ich sog dankbar die süß duftende Luft ein, da durchbrach ein einzelner Vogelruf die Stille.
    »Haben Sie die Amsel gehört?« fragte ich.
    Er nickte, und ich überlegte mir, ob er wohl auch daran dachte, wie vor Jahren, als wir über meinen ersten Fall sprachen, ebenfalls eine Amsel den neuen Tag begrüßt hatte.
    Schweigend gingen wir die Treppe hinauf. Vor der Tür zu seinem Zimmer blieb Siegfried stehen.
    »Nun, James...« Er streckte mir die Hand hin und versuchte zu lächeln.
    Ich griff nach seiner Hand, doch schon nach einem kurzen Augenblick ließ er sie wieder los und ging in sein Zimmer. Und als ich benommen weiter nach oben stieg, fiel mir ein, daß wir uns überhaupt nicht Lebewohl gesagt hatten. Wir wußten nicht, ob und wann wir uns jemals wiedersehen würden. Ich weiß nicht, ob Siegfried etwas hatte sagen wollen, aber mir lag vieles auf der Zunge, was ich ihm gern gesagt hätte.
    Ich wollte ihm dafür danken, daß er mir nicht nur ein Vorgesetzter, sondern auch ein Freund gewesen war, daß er mich so vieles gelehrt und mich nie im Stich gelassen hatte. Und noch vieles andere mehr...
    Selbst für die fünfzig Pfund habe ich ihm nie richtig gedankt... bis heute.

Kapitel 26
     
    Ich fuhr langsamer und blickte auf das Gehöft. Dort neben dem Stall stand Tristans Wagen, und hinter der grünen Tür half Tristan einer Kuh beim Kalben. Er hatte sein Studium beendet und war inzwischen wohlbestallter Veterinär. Vor ihm lag die große

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