Tiffany Duo 40
Oberfläche. Seltsamerweise berührte diese Geste ihn tief in
seinem Inneren. Er erinnerte sich an seinen ersten Besuch der Mauer sechs Jahre
zuvor. Damals war er neu im Büro und hielt sich nicht gerade für einen sehr
religiösen Menschen. Er hatte nicht erwartet, von der heiligen Stätte beeindruckt zu sein. Doch nachdem er die Klagemauer berührt hatte, so wie Claire Weston es
gerade tat, hatte er den Kopf geneigt, und ein seltsames Gefühl hatte ihn
durchströmt.
Aufgewühlt griff er nach einer Zigarette, als ihm wieder einfiel, dass er hier nicht rauchen konnte. Er schob die Hände in die Taschen seiner grauen Hose. Es war gut,
dass er sich entschlossen hatte, einen Wagen zu mieten und zu Claire Westons
Wohnung zu fahren. Unterwegs hatte er überlegt, wie er herausfinden könnte, ob
sie noch drin war, aber das hatte sich als unnötig erwiesen.
Als er sich dem Haus genähert hatte, hatte er gesehen, wie sie mit einem
Stadtführer herausgekommen und zu einer Bushaltestelle gegangen war. Er war ihr
mit dem Wagen bis zu dem Tempelbezirk gefolgt, hatte einen Parkplatz gefunden
und sie dank ihres roten Kleides im Gewühl der Menschen auch nicht aus den Augen
verloren.
Doch ich kann auf Dauer nichts erreichen, wenn ich ihr nur von weitem folge, sagte
er sich. Irgendwie muss ich Kontakt mit ihr aufnehmen. Er überlegte gerade, was
wohl die beste Methode wäre, da sah er, wie sie sich herumdrehte, langsam die
Mauer
verließ und direkt auf die Treppe zusteuerte, neben der er wartete. Sie würde ganz
nah an ihm vorbeigehen. Es würde keine bessere Gelegenheit geben, um sich ihr
vorzustellen. Aber wie sollte er das machen, ohne ihren Verdacht zu erregen?
Sie hatte mittlerweile hinter den mit Kameras behängten Touristen die Treppe
erreicht und begann, sie hinaufzugehen. In dem Moment, in dem sie die oberste
Stufe betrat, stürmte eine Gruppe Jugendlicher, die sich angeregt auf Deutsch
unterhielten, herunter. Einer von ihnen stieß Claire an, die nur wenige Zentimeter
von Oliver entfernt war, und brachte sie fast aus dem Gleichgewicht. Automatisch
griff er nach ihrem Arm und stützte sie. Nachdem sie die Balance wiedergefunden
hatte, wandte sie den Blick von den Jugendlichen ab und schaute Oliver an.
Die Vollkommenheit ihres Gesichts verwirrte ihn. Es war oval, hatte feine Züge. Die
Haut war hell, und sie hatte Sommersprossen auf der Nase. Bis jetzt hatte Oliver
Claire nur von weitem gesehen und aufgrund ihres schlanken Körpers angenommen,
dass sie attraktiv sei. Sie ist nicht attraktiv, sie ist atemberaubend schön, berichtigte er seine Beschreibung nun. Ihre Augen, die ihn mit einem wachsamen Blick
musterten, waren groß, rauchgrau und von dichten schwarzen Wimpern
eingerahmt. Ihr Haar fiel in rotbraunen goldschimmernden Wellen auf die Schultern.
Oliver verspürte sofort den Drang, es mit den Fingern zu berühren. Sie war kleiner,
als er gedacht hatte, vielleicht einsfünfundsech-zig, und ihr Scheitel war auf der
gleichen Höhe wie sein Mund. Sie roch nach etwas Frischem, Aufregendem. Ihr Arm,
den er immer noch umfasst hielt, war schlank, ihre Haut seidenweich. Ihre Nähe
erregte ihn, und hastig ließ er sie los.
»Danke«, sagte Claire ernst. »Ich wäre gefallen, wenn Sie mich nicht aufgefangen
hätten.« Ihr Südstaatenakzent klang reizend wie ihre leicht heisere Stimme.
»Wahrscheinlich machen die Kinder einen Schulausflug«, sagte Oliver. »Sie haben
Sie noch nicht einmal gesehen.«
»Sie sind Amerikaner.« Ihr Lächeln vertrieb die Wachsamkeit aus ihrem Blick. »Ich
auch. Ich bin Claire Weston aus Atlan-
ta.«
Oliver gratulierte sich dazu, im richtigen Moment an der richtigen Stelle gewesen zu sein, und nahm ihre ausgestreckte Hand. »Oliver Kellogg, New York und die weitere
Umgebung.«
»Machen Sie hier Urlaub?«
»Nein. Ich verbinde Geschäftliches mit einer kleinen Tour zu den
Sehenswürdigkeiten. Und Sie?«
»Ich will hier eine Niederlassung meiner Firma eröffnen. Ich bin erst heute morgen
angekommen.«
»Dann werden Sie sich länger hier aufhalten?«
»Sechs bis acht Monate, vermutlich.« Sie lächelte ihn erneut an. »Ist es nicht
aufregend?«
Oliver steckte die Hände wieder in die Taschen und schaute sie verwundert an. »Es
könnte aufregender werden, als Sie es sich gewünscht haben.«
»Ach so, Sie meinen die politische Situation.« Sie tat seine Bedenken mit einer
Handbewegung ab. »Ich mag es nicht, wenn man die Sachen zu sehr
Weitere Kostenlose Bücher