Tiffany Duo Band 0124
sah, wer es war, blieb sie abrupt stehen, und es kam ihr so vor, als ob ihr Körper für einen Moment alle Funktionen eingestellt hätte. Es war Wiley mit einem Bündel im Arm, bei dem sich bei genauerem Hinsehen herausstellte, dass es sich um ein in eine Decke eingewickeltes Kind handelte … eine Decke, die, wie Molly erschrocken sah, blutbefleckt war.
Sie schaute Wiley fragend an, und er antwortete mit einem kaum wahrnehmbaren Nicken.
Ihr Körper, der sich eben noch tot gestellt hatte, begann jetzt seltsam zu summen. “Josefina?”, fragte sie atemlos, während sie dem Kind die Decke von dem Gesicht zog. “Oh, Gott!” Eine Wange war blutverschmiert. “Kommen Sie, hier herein.” Sie betrat hinter Wiley das kleine Behandlungszimmer. “Was ist passiert? Wo haben Sie sie gefunden?”
Der Farmer legte das Kind mit überraschender Sanftheit auf dem Bett ab. “Gerade als ich ins Bett wollte, tauchte auf meiner Hinterveranda ein kleiner Köter auf. Er hat gekläfft wie verrückt und ließ sich nicht wegscheuchen.”
Molly hörte zu, während sie die Decke wegzog, unter der ein sehr zierliches Kind mit langen schwarzen Haaren zum Vorschein kam, dessen bleiches Gesicht eine unübersehbare Ähnlichkeit mit Alejandro hatte. Die Kleine schien nicht bei Bewusstsein zu sein.
“Der Hund hat nicht aufgehört zu kläffen und ist dauernd um mich rumgerannt, als wolle er mir was zeigen. Dabei fiel mir die Kleine ein, von der Sie gesprochen hatten, deshalb ging ich hinter ihm her.” Er hob eine knotige braune Hand. “Ich hab sie unter einem Baum gefunden, genau so. Mit dem ganzen Blut im Gesicht.”
“Hat sie irgendetwas gesagt?”
“Nein. Nur gestöhnt.”
Das Mädchen krümmte sich in Embryostellung zusammen und fing an zu husten. Es war ein bösartiger Husten, und jetzt wurde Molly klar, dass die Kleine das Blut auf der Decke ausgehustet hatte. Automatisch griff sie nach einem Mundschutz und gab Wiley ebenfalls einen. “Ich hole rasch die Ärztin, dann können Sie gehen, aber haben Sie nicht gesagt, dass Josefina im Gesundheitszentrum untersucht wurde?”
“Ja. Weiß aber nicht, was dabei rausgekommen ist.”
Das Mädchen begann jetzt zu zittern, es krümmte sich wieder zusammen und rief mit kläglicher Stimme: “Tío!” Dann wurde es erneut von einem Hustenanfall geschüttelt.
Die Ärztin, eine hoch gewachsene, resolut wirkende Frau, kam herein und stellte polternd Fragen, die niemand beantworten konnte. Das Kind war dehydriert und fiebrig, und als die Ärztin die Kleine abhörte, wechselte sie mit Molly einen Blick … das war keine Bronchitis oder Lungenentzündung, obwohl sich der Zustand des Mädchens durch das eine oder andere noch verkomplizieren würde. “Sie muss geröntgt werden. Sofort.”
“TB?”, fragte Molly leise.
“Sieht ganz danach aus. Wir machen die Tests und bringen sie auf die Isolierstation.” Sie schaute Wiley an. “Wo sind ihre Leute?”
“Keine Ahnung”, gab er brummig zurück und zupfte an seinem Schnauzbart. “Vielleicht wurden sie ja bei der Razzia geschnappt. Man könnte beim Sheriff nachfragen. Ihr Onkel ist so ein baumlanger Kerl, er hatte irgendeinen bekannten Namen … ach, ja, Sosa, wie dieser Baseballspieler.”
“Danke.” Die Ärztin warf Molly einen Blick zu. “Kümmern Sie sich um das Kind, und Annie soll im Sheriffbüro anrufen.”
Wiley zögerte an der Tür. “Was passiert mit ihr?”
Molly packte das Kind wieder in die Decke ein. “Das wird vermutlich der Sozialdienst entscheiden. Ich sage Ihnen Bescheid, sobald ich etwas weiß.”
“Danke.”
Das kleine Mädchen fuhr plötzlich hoch und starrte wild um sich. “
Pequena
!”, rief sie. “Mein Hund!” Sie umklammerte Mollys Arm so fest, dass es beinahe wehtat. “¿
Dónde está mi perro
?”
“Ich kümmere mich um ihn, Schätzchen. Mach dir keine Sorgen”, tröstete Wiley sie, und Molly war seltsam gerührt von seiner Freundlichkeit. “Er bekommt was zu fressen, und dann zeige ich ihm ein Eckchen, wo er sich schlafen legen kann. Wie findest du das?”
Sie schaute ungläubig und herzzerreißend traurig drein. Molly streichelte ihr den Kopf. “Hast du verstanden, was er gesagt hat?”
“Ich kann Englisch”, sagte sie dumpf.
“Du kannst ihm vertrauen, Schätzchen.”
Der Griff lockerte sich. Sie nickte.
Alejandro konnte nicht einschlafen. Jedes Mal, wenn er sich hinlegte, stürmten die Gedanken an Josefina auf ihn ein. Er musste daran denken, dass sie fror. Dass sie Angst hatte.
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