Tiffany
Sie schwieg einen Augenblick lang. »Ich verstehe nicht, warum Jan mir nicht erzählt hat, was er vorhatte. Ich dachte, er hätte mir vertraut.«
Jan musste gewusst haben, dass das, was er tat, gefähr lich war, und wollte vermutlich seine Wohltäterin be schützen.
Er hatte ihr nichts zur Aufbewahrung anvertraut, we der eine Keksdose noch eine Kopie der Diskette. Sie nahm an, dass ihr Laptop mit verbrannt war. Sie hatte nicht danach gesucht, sie mied die Unglücksstelle.
Ich trank noch ein Tässchen Tee mit der Baronin, und als sie mich schließlich zurück zu meinem Auto begleite te, legte ich ihr ans Herz, jedem gegenüber, der sich bei ihr nach Jan erkundigte, weiterhin zu behaupten, dass sie ihn nicht gekannt hätte.
Sie verstand sehr genau, was ich damit meinte. Sie gab mir ein Glas selbst gemachtes Pflaumenmus mit.
12
Ich stellte meinen Wagen wieder an dem Schlagbaum ab und schlug noch einmal denselben Weg wie vorhin ein, passierte die Unglücksstelle und ging bis zur Futterstelle der Fuchsfrau. Ich versuchte, ihr Pfeifen zu imitieren, doch die Füchse ließen sich nicht blicken. Als einzige Antwort löste ich ein lautes Gekreische unter den Elstern und Eichelhähern aus, die die anderen Tiere des Waldes vor drohender Gefahr warnten.
Der Hochsitz stand versteckt am Waldrand, zwischen hohen, kahlen Nadelbäumen, und war durch überdimen sionale Weihnachtstannen größtenteils der Sicht entzo gen, die ungehindert in die Höhe geschossen waren, seit keine Jäger mehr hierher kamen. Es war eine verwitterte Konstruktion aus entrindeten Tannenstämmen, zu der auf der Waldseite eine Leiter aus zwei schräg angelehnten Pfählen mit dünnen Sprossen dazwischen hinaufführte. Die Stufen sahen modrig aus, erwiesen sich aber noch als solide genug, um mein Gewicht zu tragen.
Die nur wenige Quadratmeter große Plattform bestand aus zusammengefügten Tannenstämmen und war von einer hüfthohen Brüstung aus dünneren Stämmchen umgeben. Zwischen den Streben hingen Spinnweben, die Überreste trockener Heidekraut-Büschel und Fichtenzweige, die wohl früher einmal als Sichtschutz hineingeflochten worden waren. Einige längere Pfosten ragten darüber empor; auf ihnen musste einmal ein Schutzdach aus Stangen und Segeltuch geruht haben. Halb vermoderte Fetzen von grünem Stoff lagen in der Schicht aus Heu und hereingewehten Blättern auf dem Boden, und eine alte Kartoffelkiste stand an der Brüstung. Ich zog sie zu mir heran und drehte sie auf die Seite, um mich darauf setzen zu können.
Hier hatte Jan van Nunen viele Stunden verbracht – womit?
Ich hörte das eifrige Zwitschern kleiner Vögel und das Flügelschlagen einer Waldtaube. Von der Kiste aus konnte ich knapp über den Rand des Geländers hinwegschauen, doch die Sicht wurde mir von den Weihnachtsbäumen versperrt, deren Spitzen bis zur Hälfte der Brüstung reichten. Was ich sehen konnte, war ein schmaler Streifen Wiese und eine alte Karrenspur, die am Waldrand entlang bis hin zum Futterplatz der Baronin führte.
Vielleicht hatte Jan einfach nur hier gesessen und den Waldgeräuschen gelauscht. Dies war wieder so einer von den Orten, die mich daran erinnerten, wie sehr ich von der Stadt genug hatte. Einen zu großen Teil meines Lebens hatte ich nichts als Straßenlärm gehört, verschmutzte Luft eingeatmet, Menschenmassen und zu viel Gewalt gesehen und die einzelnen Jahreszeiten ausschließlich als zu warme, zu kalte oder zu nasse Witterungsphasen erfahren.
Ich ließ mich von der Kiste herunter auf die Knie rutschen und begann, die dicke Lage von dürrem Gras und trockenen Blättern zu durchwühlen. Auf der Ostseite, neben der Aussparung für die Leiter in der Brüstung, schien die Lage dicker zu sein. Ich zog Stücke von mürbem Segeltuch beiseite und grub in der Schicht herum, bis meine Finger glatteres Holz berührten.
Das Behältnis sah aus wie eine alte Malerkiste, die vielleicht dazu gedient hatte, die Munition der Jäger trocken zu halten. Die Scharniere waren durchgerostet, und der Deckel lag lose darauf. Darunter befand sich eine flache Keksdose. Ich nahm sie aus der Kiste heraus, kehrte zu Jans Sitz zurück und öffnete sie.
Es lag nicht viel darin. Ein altes Schulheft, auf dem Ta gebuch stand, zwei Kugelschreiber, ein dicker, zusammengefalteter Brief ohne Umschlag sowie ein paar Seiten liniertes Papier, ebenfalls aus einem Schulheft, auf die Jan lediglich einige Zeilen gekritzelt hatte, die er anscheinend in den wechselnden Stimmungen
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