Tiger Eye
damit konnten sie China endlich verlassen. Vielleicht würde ihnen der Ärger folgen, aber wenn sie erst auf Delas Terrain waren, wo ihre Freunde ihr und Hari helfen konnten, würde sich die Illusion von Sicherheit richtig gut anfühlen.
Als sie das Hotel jedoch verließen und in die Sonne hinaustraten, die den leichten Nebel von Pekings Smog silbern schimmern ließ, blickte Dela zu Hari hinauf und begriff, dass sie ein anderes Problem hatten. Es stellte sich auch sofort, als ein Taxi vor ihnen hielt und Hari einzusteigen versuchte.
Es war fast komisch zuzusehen, wie er sich vergeblich bemühte, sich wie eine Bretzel zusammenzufalten, um sich auf den Rücksitz des winzigen roten Wagens zu klemmen. Fremde und Einheimische sahen fasziniert zu, wie er versuchte, seine zwei Meter zehn Knochen und Muskeln in einen Raum zu quetschen, den selbst Dela winzig fand. Schließlich lief ein junger Page ins Hotel und kam kurz darauf mit dem Empfangschef wieder.
Der grauhaarige, bebrillte Mann warf einen Blick auf die muskulösen Beine, die aus dem Taxi herausragten, und schüttelte den Kopf. Dann deutete er auf Dela.
»Ich kann Ihnen einen größeren Wagen besorgen, selbstverständlich auf Kosten des Hotels«, sagte er mit gequälter Miene.
Also bekamen Dela und Hari einen Van mit Fahrer. Dem Fahrer schien es egal zu sein, ob Hari mehr als zwei Meter groß war oder ob er sie vielleicht den ganzen Tag durch die Stadt kutschieren musste. In seinem Mundwinkel hing eine unangezündete Zigarette, und der Blick seiner dunklen Augen blieb in dem verschwitzten Gesicht starr auf die kurvigen Straßen gerichtet.
Selbst mit dem größeren Fahrzeug war die Fahrt zum Dreckmarkt jedoch höchst unbequem. Hari hockte zusammengepfercht auf dem Sitz, die Knie bis an die Brust gezogen und die Schultern gebeugt, damit er mit dem Kopf nicht an das Dach des Wagens stieß. Dela machte sich wegen seiner Platzangst Sorgen, aber offenbar linderten die großen Fensterscheiben des Wagens seine Qualen wegen des beengten Raumes.
Dela saß vorn neben dem Fahrer. Jedes Mal, wenn sie sich umdrehte, um zu sehen, wie es Hari ging, beobachtete er staunend die Stadt, durch die sie fuhren. Die Sonne schien durch die Fensterscheiben und badete seinen Körper in ihrem Licht. Sein mehrfarbiges Haar leuchtete strähnig wie Feuer, und seine braune Haut glühte warm. Er wirkte unirdisch und wunderschön, ein Mann aus einer anderen Zeit, in dessen suchenden Augen sich eine andere Welt spiegelte.
Das blaue Tor des Dreckmarktes war bereits geöffnet, als sie ankamen. Ihr schweigsamer Fahrer parkte auf der anderen Straßenseite und sagte kein Wort, als Dela ihm erneut einschärfte, auf sie zu warten. Als sie ihm zwanzig Yüan gab, lächelte er und entblößte bemerkenswert gelbe Zähne.
Die Händler waren noch dabei, ihre Stände aufzubauen. Dela und Hari blieben im Schatten einer alten Ziegelmauer stehen, während sie zusahen, wie Männer und Frauen mit schwer beladenen Fahrrädern durch das Tor kamen. Eingepackte Vasen standen in kleinen Karren, Türme von Kisten enthielten Jadestatuen, Papierfächer, Statuetten von Buddha oder Gu Gong, Steinschüsseln, Keramiklöwen und hockende Frauen, antike Waffen, Schriftrollen mit Gemälden, Glücksbringer und verstaubte alte Bücher.
Die Aufmerksamkeit, die Hari im Hotel erregt hatte, war nichts im Vergleich zu den gaffenden Blicken, die er am helllichten Teig und draußen auf sich zog. Allerdings konnte Dela den Leuten ihr Starren auch nicht verübeln. An einem Ort, wo schon blondes Haar oder eine sehr dunkle Haut einen abschätzigen Blick hervorrief, bedeutete Hari eine zwei Meter zehn hohe exotische Verführung.
Die Kinder von Händlern, die ihre Eltern zu den zugewiesenen Ständen begleiteten, beäugten ihn mit sprachloser Ehrfurcht. Sie waren so beeindruckt, dass sie nicht einmal auf die
Idee kamen, auf ihn zu zeigen, sondern nur in einem weiten Kreis um ihn herumstanden wie Zuschauer bei einer Pantomime, in der Hari der einzige Star war. Hari lächelte, und Dela sah ihm zu, wie er sich langsam hinkniete, um die Riemen seiner Sandalen festzuziehen, die das letzte Relikt seiner uralten Kleidung waren.
Die Kinder flüsterten. Ein kleines Mädchen, mit großen Augen in einem herzförmigen Gesicht, näherte sich vorsichtig, während das orangenfarbene Eis in ihrer Hand langsam über ihr zierliches Handgelenk lief. Hari beschäftigte sich immer noch mit seinen Sandalen. Dela beobachtete, wie das Mädchen die Hand
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