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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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starrte ihn staunend an, unfähig etwas zu erwidern oder auch nur die richtigen Worte zu finden, mit denen sie auf eine solche unglaubliche Feststellung hätte reagieren können. Und gerade, als sie glaubte, Worte reichten dafür ohnehin nicht, nahm Hari ihre Hand und zog sie zu der ersten Reihe der Buden.
    »Komm«, sagte er sanft. »Wir müssen eine alte Frau suchen.«
    Zügig gingen sie über den Markt. Es war noch früh genug, so dass sie in den Gängen schnell vorankamen. Dela ignorierte die flehentlichen Bitten der Händler, stehen zu bleiben. Die Lobpreisungen ihrer Waren summten nur entfernt in ihren Ohren. Sie öffnete ihren Verstand und suchte an den Menschen, die sie umgaben, nach Waffen, aber es gab hier zu viel Metall, angefangen von den Waren bis zu den Tragbalken der Blechdächer: Sie konnte dem Flüstern des Stahls nichts Verständliches entnehmen. Dela fuhr ihre mentalen Schilde also wieder hoch. Schweigen kehrte ein, gesegnetes, süßes Schweigen.
    Dela ging denselben Weg wie am Morgen zuvor, in einem Kreis an Händlern mit Keramikkrügen und billigen Gemälden vorbei, die so neu waren, dass Ölfarbe und Tinte noch feucht waren. Bis ihr durch eine Lücke in der Menge plötzlich bunte Gobelins ins Auge fielen. Erleichterung durchströmte sie. Endlich würde sie ein paar Antworten bekommen.
    Hari erstarrte, als sie sich dem Stand näherten, und blieb mitten in dem Gang stehen. Er blähte die Nasenflügel.
    »Was gibt es?« Dela sah sich um. Alles schien wie üblich zu sein: schmutzig, voll und laut.
    Hari atmete tief ein. »Gestaltwandler«, stieß er hervor und rollte mit den Schultern. »Eine frische Spur. Dieselbe wie letzte Nacht.«
    »Worauf warten wir dann?« Dela gab ihm einen leichten Stoß. »Geh und verfolge sie!«
    »Ich kann dich nicht allein lassen«, protestierte er. Seine Augen hatten einen wilden Ausdruck, zerrissen zwar, aber dennoch entschlossen. Er zog Dela hinter sich her, weg von den Gobelins, und Dela sträubte sich mit einem Knurren.
    »Nein.« Sie wehrte sich gegen seinen Griff. »Du gehst ohne mich. Ich suche die alte Frau.«
    »Delilah!« Seine Stimme klang warnend, doch sie schüttelte nur störrisch den Kopf.
    »Du kannst nicht ununterbrochen bei mir sein, und ich kann auf mich selbst aufpassen. Bitte. Wir haben beide etwas Wichtiges zu erledigen. Es ist besser, wenn wir uns aufteilen. Außerdem«, sie lächelte und gab sich mutiger, als sie sich tatsächlich fühlte, »der Fluch lässt ja ohnehin nicht zu, dass du lange von mir getrennt bist, nicht wahr?«
    Hari zögerte, beugte sich dann zu ihr und umfasste sanft ihren Nacken. »Ich habe es wirklich so gemeint, Delilah«, flüsterte er. »Die Schatulle kümmert mich nicht.«
    Dela lächelte, diesmal aufrichtig. »Geh und such deinen Gestaltwandler, Hari.«
    Hari presste die Lippen zusammen und strich mit dem Daumen über ihre Wange, ihren Mundwinkel. Er nickte einmal, riss seinen Blick von ihr los, drehte sich um und glitt geschickt durch die von Menschen bevölkerte Gasse. Dela sah ihm einen Augenblick lang nach und machte sich dann auf die Suche nach der alten Frau.
    Nur war sie nirgendwo zu finden. Dela suchte den ganzen Gang ab, betrachtete jedes Gesicht und suchte nach einer Gestalt mit dieser jugendlichen Haltung und den weisen, uralten Augen.
    »Entschuldigung.« Dela näherte sich einer jungen Frau, die bestickte Tücher sortierte. Sie war klein und knochig, ihre dunklen Wangen waren von Aknenarben gezeichnet. Als sie sich zu Dela herumdrehte, löste sich eine schwarze Haarsträhne aus einer roten Haarklammer in Form eines Schmetterlings und fiel vor ihre funkelnden Augen.
    Dela deutete auf den Stand neben ihnen, der so aussah, als wäre er für Läufer vorbereitet worden, nur dass seine Besitzerin nicht dort war. »Ich bin gestern hier gewesen und habe etwas von Ihrer Nachbarin gekauft, einer alten Frau. Sie trug eine dunkelrote Hose und ein schwarzes T-Shirt. Ich muss sie unbedingt sprechen. Kommt sie bald zurück?«
    Der Blick der jungen Frau wurde ausdruckslos und kalt, als sie Dela so abfällig musterte, als wäre sie ein Hund, der dabei ertappt wurde, wie er seinen eigenen Kot fraß. Da Dela aber kein Hund war und auch nicht vorhatte, sich in der Öffentlichkeit wie einer zu erleichtern, hob sie nur die Brauen und wartete.
    Als die junge Chinesin endlich antwortete, trafen ihre unerwarteten Worte Dela wie ein Schock. »Sie ist tot.« Sie sagte es ohne jedes Gefühl.
    Dela stieß einen kehligen Laut aus, das

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