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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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Blut rauschte ihr in den Ohren. »Das ist unmöglich!«, stammelte sie. »Sie kann nicht tot sein.«
    Die junge Frau zuckte gleichgültig die Achseln und sortierte weiter die Tücher. Dela packte ihren Ärmel. »Ihr Stand ist doch fertig aufgebaut. Sie lügen mich an!«
    »Tatsächlich?« Die junge Frau blickte finster auf Delas Hand. »Sie ist tot. Ihr Geschäft gehört jetzt mir.«
    »Ich glaube Ihnen nicht.«
    Die Frau riss sich los und murmelte etwas über dumme Ausländer. Dela knirschte mit den Zähnen. »Wo ist sie? Sagen Sie es mir!«
    Die Chinesin schüttelte den Kopf und presste die Lippen eigensinnig zusammen. Sie wirkte so störrisch wie ein Maultier, und Dela war sich nicht einmal sicher, ob man ihre Lippen mit einer Stange Dynamit auseinander bekäme.
    Dela richtete sich auf, rot vor Wut, und bemerkte im selben Augenblick, dass sie die ungeteilte Aufmerksamkeit sämtlicher Händler im Gang genoss.
    »Ich bezahle«, sagte sie laut und hob das Kinn, als die junge Chinesin etwas Unverständliches knurrte. »Für alles. Einen Namen, einen Ort oder die Wahrheit. Es ist sehr wichtig, dass ich die alte Frau finde.«
    Einen Moment lang war Dela fest davon überzeugt, dass sie damit einen Fehler gemacht hatte. Die Blicke, die ihr die Leute zuwarfen, waren verschlossen und missbilligend, und ihr dämmerte, dass sie wahrscheinlich nur Lügen hören würde, selbst wenn jemand sprach. Doch dann nahm sie das Rascheln von Stoff wahr und eine leise Stimme. »Aiii-yo.«
    Die anderen Händler kicherten, verstummten aber schlagartig wieder. Dela drehte sich zu dem Mann herum, der gerade gesprochen hatte und sich jetzt aufrichtete. In seinen schlanken, braunen Fingern hielt er eine Zigarette. Er war um die vierzig und hatte sein schwarzes Haar unter einen ausgebleichten, blauen Stoffhut gestopft. Er sah Dela nicht in die Augen, nahm aber die fünfzig Dollar an, die sie ihm in die Hand drückte.
    »Long Nü.« Er zog den Kopf ein, als einige Händler zischten. »So heißt sie.«
    Long Nü. Drachenfrau.
    Dela beugte sich zu ihm. »Long Nü lebt noch, nicht wahr? Warum versteckt sie sich? Warum beschützt ihr sie alle?«
    Die junge Chinesin, mit der Dela gesprochen hatte, fuhr den
    Mann böse an, der gleich zusammenzuckte. Und danach erstarrte, als er über Delas Schulter sah. Beim Anblick seiner Miene lief Dela eine Gänsehaut über den Rücken.
    »Delilah!« Haris tiefe Stimme klang warnend.
    Dela fuhr herum und spürte, wie etwas Scharfes ihren Nacken streifte. Es flog so dicht an ihr vorbei, dass ihre Haut den Kuss des Stahls fühlen konnte. Das Messer zischte an dem erschreckten Mann vor ihr vorbei und landete mit einem trockenen Schlag in einem Holzpfosten.
    Dela ging sofort in die Hocke. Am Ende des Ganges stand ihr Möchtegern-Mörder, umringt von den erschreckten Käufern. In seiner Hand glitzerten kleine Wurfmesser. Warum hatte sie das Metall nicht gespürt?
    Als er die Hand erneut zum Wurf hob, sah Dela aus dem Augenwinkel, wie Hari über eine kleine Mauer aus Waren sprang. Sein kräftiger Körper segelte durch die Luft und landete mit vollkommener Anmut neben ihr. Er stieß gegen ihren Körper, verdeckte sie vollkommen und zog sie so fest an sich, dass sie die Wülste seiner Narben durch sein Hemd auf ihrer Stirn spürte.
    Sie hörte den Aufprall, als Stahl in Fleisch einschlug, einmal, zweimal. Hari aber gab keinen Laut von sich. Er griff hinter sich, auf seinen Rücken, und dann hörte Dela, wie seine Haut zerriss, es war ein saugendes, schmatzendes Geräusch. Ein blutiges Messer erschien in Haris Hand und zischte im nächsten Moment durch die Luft.
    Das Messer grub sich bis zum Heft in den Hals des Angreifers. Der Mann gurgelte, und seine Augen traten aus ihren Höhlen. Er brach zusammen, noch während seine Hand zum Hals fuhr.
    Die Menschen stießen, schoben und flüchteten über den
    Gang, fort von diesem Ausbruch der Gewalt. Laute, schrille Schreie gellten durch die Luft. Jemand weinte schluchzend, und Chaos brach aus. Hari wirkte von dem Tumult vollkommen unberührt. Er hob Dela in seine Arme und lief durch den Gang, bahnte sich mit seiner Größe und Körperkraft rücksichtslos einen Weg.
    Dela sah kaum etwas davon, weil sie fest an Haris Körper lag. Alles flog undeutlich an ihr vorbei, sie nahm allein das heftige Klopfen seines Herzens in ihrem Ohr wahr. Schließlich setzte er sie auf einem leeren Platz hinter einer Gruppe von großen steinernen Löwen, kitschigen römischen Säulen und riesigen Buddhas

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