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Tiger Eye

Titel: Tiger Eye Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marjorie M. Liu
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sie nicht nur töten, sondern erst noch quälen. Das Entsetzen über diese Möglichkeit ließ ihn schwanken. Eher würde er sterben als zusehen, wie Dela dasselbe Schicksal erleiden musste wie seine Schwester. Vielleicht wollte der Magier diesmal kein Kind, aber er war ein Mann, der eine starke, gewalttätige Lust empfand. Hari sah noch immer die Augen seiner Schwester vor sich, gebrochen von Trauer, wie sie ihren nackten Bauch mit blutenden Händen umklammerte. Die junge Frau, die versuchte, ihr ungeborenes Kind zu beschützen, und es am Ende nicht konnte.
    Delilah wäre eine ausgezeichnete Mutter. Der Gedanke kam ungebeten und nachdrücklich. Hari schob diese Vorstellung rasch beiseite, bevor ihm das Herz in der Brust zersprang. Sein Leben war zu unsicher, um an solche Dinge zu denken, der Schmerz zu groß. Das wenige, was er Dela über seine Suche nach einer Partnerin gesagt hatte, war einer Wahrheit zu nahe gekommen, der er sich noch nicht stellen wollte. Ein Traum, den er sich lange versagt hatte.
    Hari fühlte Delas Schrei, bevor er ihn hörte. Aus einem Instinkt heraus lauschte er in Richtung des Badezimmers, als das Wasser platschte und sie erschreckt aufschrie. Er fühlte nicht, wie er sich bewegte, sondern war plötzlich im Badezimmer und sah hilflos zu, wie Dela sich vor und zurück wiegte und ihre Knie mit den Armen umklammerte. Er kniete sich neben sie, legte ihr seine große Hand auf den Kopf, strich ihr das feuchte Haar aus dem Gesicht und zog sie an seine trockene, warme Brust.
    »Hari«, flüsterte sie. »Etwas Schreckliches wird geschehen.«
    »Erzähl es mir«, sagte er, während ihm schwindelte, als neigte sich die Welt unter ihm.
    Dela schüttelte den Kopf und starrte auf die Fliesen an der Wand. »Ich hatte einen Traum, eine Vision. Manchmal zeigt sich mir die Zukunft auf diese Weise, aber dies hier... es war nichts Besonderes. Nur, dass du und ich in eine sehr schlimme Lage geraten.« Dela sah ihn an, und plötzlich wurde sich Hari ihrer Nacktheit bewusst. Sie zog die Beine dichter an die Brust.
    »Entschuldige«, murmelte er, stand auf und wandte den Blick ab.
    »Hari.« Sie nannte seinen Namen und hielt ihn auf. »Danke.«
    Er nickte und schloss hinter sich die Tür. Wenn er etwas Abstand zu Dela gewann, konnte er besser denken. Er lehnte sich gegen die Wand und legte die geballten Fäuste auf seine Schenkel.
    Etwas Schreckliches wird geschehen. Du und ich, wir werden in eine schlimme Lage geraten.
    Hari hörte, wie Dela aus der Wanne stieg, und seine Ohren fingen ihre sorgfältigen, bedächtigen Atemzüge auf. Sie hatte ihre Selbstbeherrschung wiedergewonnen. Doch er hatte ihre Angst gesehen, den Ausdruck des nackten Entsetzens, der sich in ihr Gesicht eingegraben hatte, und fühlte, wie er tiefer an einen Ort sank, den aufzusuchen er sich seit zweitausend Jahren nicht erlaubt hatte. Ohne seine Haut konnte er sich zwar nicht richtig in einen Tiger verwandeln, aber der Tiger war dennoch in ihm - und träumte rastlos.
    Hari umkreiste die Bestie, streichelte sie flüsternd. Er hatte zu viel Zeit mit Träumen verbracht.
    Es wurde Zeit aufzuwachen.

5
    Todesvisionen verfolgten Dela die restliche Nacht lang, wie eine tödliche Liebkosung ihres Verstandes. Sie lag da in der Dunkelheit, und es fiel ihr schwer, die Augen zu schließen. Haris gequälte Miene ließ sie nicht los, ständig hörte sie Todesseufzer von irgendjemandem. Leise und tödlich.
    Die Zukunft entwickelt sich niemals so, wie du es glaubst. Was du von ihr siehst, ist nur ein winziger Ausschnitt, der Schatten einer Möglichkeit.
    Diese Wahrheit war Dela nur zu bewusst. Mit zwölf Jahren hatte sie geträumt, dass Bobo, ihr Hund, von einem Auto überfahren werden würde. In der folgenden Woche wurde er tatsächlich angefahren, als er einem Ball auf die Straße nachjagte. Der Wagen hatte ihn jedoch nur gestreift. Bobo brach sich einen Lauf und lebte noch fünf Jahre, bevor er schließlich an Altersschwäche starb.
    Trotzdem war Bobo ein Wendepunkt in Delas Gefühlsleben gewesen, das die Häufigkeit ihrer Visionen zu steuern schien. Ihre Großmutter war ein eingetragenes Mitglied von Oracles-R-Us, doch Delas Visionen blieben immer auf Ereignisse beschränkt, die tiefe emotionale Konsequenzen mit sich brachten. Und jetzt, in diesem Augenblick, ging es für sie auch nur darum: um tiefe, emotionale Konsequenzen.
    Sie lauschte Haris ruhigen Atemzügen auf der anderen Seite des Zimmers vor der Tür. Er hatte ihr eine gute Nacht
    gewünscht,

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