Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
Vom Netzwerk:
Selbst meine prosaischsten Taten waren festgehalten und verewigt worden: wie ich mich vornüberbeuge, um einen schmutzigen Schnürsenkel festzubinden, wie ich klatsche, die Sittiche füttere, mich nach einem Kiefernzapfen bücke. Unzählige Bilder von mir mit einer Eiswaffel oder Kaugummi kauend. Dann ein weiteres dickes Album von mir mit elf Jahren und ein nicht ganz so umfangreiches von der zwölfjährigen Margaux. Außerdem die Aufnahmen vom Rollschuhmädchen. Doch gab es kein Album mit Fotos, die nach meinem dreizehnten Lebensjahr gemacht worden waren. Sicher gab es genug Bilder aus jener Zeit, doch sie waren nicht eingeklebt, sondern wurden in dem Holzkästchen verwahrt, das ich für Peter in der Schule gebastelt hatte.
    Ein Bild hob sich von den anderen ab: ein Polaroid von mir als Achtjähriger in einem Badeanzug, auf dem ich mich am schmiedeeisernen Picknicktisch im Garten festhalte. Der drahtige Körper des nymphengleichen, borkendunklen Mädchens gleicht einem gespannten Geigenbogen. Auf meinem Gesicht liegt ein seltsamer Ausdruck, der sich auf keinem anderen Foto findet: eine untypische Selbstgefälligkeit, eine umwerfende, anzügliche Selbstgewissheit. Der Blick spiegelt pure Macht: das Bewusstsein des geschmeidigen Körpers, seiner strahlenden, unverbrauchten Wirkung, der biegsamen Arme und Beine, des feuchten, verwuschelten Haars. Die Überheblichkeit dieses Kindes, sein wissender Blick auf diesem Bild – woher kam das? Woher hatte das Mädchen diesen Gesichtsausdruck? Gesellte sich dieses Kind nachts mit seinen schmutzigen Knien und den schlichten Gesichtszügen zu meinem vierzehnjährigen Ich? Schwebte jener Geist vergangener Sommer in mein Schlafzimmer wie ein Sukkubus, berührte meine Brust wie ein stromführender Draht und erweckte dieses verschlafene, übersättigte, elektrische Wesen namens Nina zum Leben, das in mir sprudelte wie eine geschüttelte Limodose? Wie eine verzauberte, verzaubernde gute Fee nahm Nina das gebräunte Gesicht des Kindes in die Hände, küsste es auf den halb geöffneten Mund und flüsterte: Margaux, ich bin deine Zukunft.
    ***
    Peter beschloss, sein Zimmer zu streichen, weil ich mich beschwert hatte, das Blassgelb sei deprimierend. Als neue Farbe hatte er ein kühles Grün gewählt, das an das Fleisch einer Avocado erinnerte. »Ich möchte nichts allzu Auffälliges«, sagte er. »Nichts soll von den schönen Gesichtern im Zimmer ablenken.« Damit meinte er mich, Karen, Paws und Jill. Jill. Die verhasste, angebetete rotwangige Jill, die schöner war als ich, weil sie blaue Augen und blondes Haar hatte. Wie oft hatte ich auf diesen achtjährigen Geist geschaut. Sie musste jetzt in meinem Alter sein.
    »Peter, ich halte es nicht mehr aus«, sagte ich.
    »Was denn?«, fragte er, während er den Pinsel gleichmäßig auf und ab bewegte. Die Wände waren am Vortag vorgestrichen worden und jetzt für den Anstrich bereit.
    »Die Schule«, sagte ich, weil es das Erste war, was mir einfiel.
    »Ärgern sie dich immer noch?«
    »Als ich mit den anderen in einer Reihe ging, hat mir jemand von hinten auf den Rücken geschlagen, richtig hart. Einige haben gelacht. Ich weiß nicht, wer es war.«
    »Na, das ist ja mutig! Einen anderen von hinten zu schlagen.«
    »Ja, ich weiß. Die Schule ist kein Stück besser als Holy Cross. Außerdem glaube ich, wir wurden zusammen gesehen. Die anderen wissen, dass du nicht mein Vater bist.«
    »Na, in ein paar Monaten bist du ja fertig. Dann kann dir diese Schule den Buckel runterrutschen.« Ich hatte Peter gesagt, dass Poppa bereit sei, mich auf eine katholische Highschool in West New York zu schicken. Die war hoffentlich so weit weg, dass der Tratsch nicht bis dorthin reichte.
    »Peter«, sagte ich und nahm allen Mut zusammen, »ich möchte, dass du das Bild von Jill nicht mehr aufhängst, wenn die Farbe getrocknet ist. Sie gehört zur Vergangenheit, und das Bild hat sowieso keine Ähnlichkeit mit ihr.«
    Peter räusperte sich. »Ich habe viele Bilder von dir, aber nur eins von Jill.«
    »Die sind veraltet. Du hast gar keine neuen Fotos von mir an der Wand.«
    »Hast du schlechte Laune wegen der Schule? Die solltest du nicht an mir auslassen.«
    »Ich möchte nur, dass du dieses eine Bild nicht aufhängst. Ist das zu viel verlangt? Du sagst immer, dass du alles für mich tun würdest.«
    »Das ist Erpressung. Du willst mich erpressen.« Er strich weiter.
    »Ich will dich nicht erpressen. Dieses Bild stört mich. Jedes Mal, wenn ich, na ja, wenn ich

Weitere Kostenlose Bücher