Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
passiert.«
»Wann?«
»Vor langer Zeit habe ich meinen Töchtern wehgetan.«
Ich zog die Knie an und schlang die Arme darum. Vom Bett aus konnte ich den frostüberzogenen Götterbaum draußen sehen. Ich hasste den Winter; nie wurde mir so richtig warm. Den Kakerlaken erging es offenbar ähnlich. Sie sammelten sich an der Heizung, mehr als je zuvor.
»Warte mal, was meinst du damit, du hast ihnen wehgetan?«
»Ich möchte nicht darüber sprechen.«
Dann erklärte Peter, wie Dämonen zuschlagen konnten, wenn sie eine offene Tür fanden, wenn sie quasi dazu eingeladen wurden. Meistens kamen sie, wenn man verletzbar war, wenn man getrunken oder Drogen genommen hatte. Wenn in mir ein Dämon sein Unwesen trieb, hieß das dann, dass ich anderen wehtun konnte?
Doch wie ich später erfahren sollte, waren meine Ängste unbegründet. Mein »Dämon« hatte es nur auf Peter abgesehen, auf niemanden sonst.
***
Zu Hause im Bett fragte ich mich, was Peter seinen Töchtern Schreckliches getan haben konnte, dass er nicht darüber sprechen wollte. Wahrscheinlich hatte er sie geschlagen, vielleicht sogar verprügelt. Allerdings hatte er mir einmal erzählt, dass ihm bei seinen Kindern nie die Hand ausgerutscht sei, obwohl seine Frau von ihm verlangt hatte, sie zu züchtigen. Um seine Frau zu besänftigen, hatte er das jeweilige Kind mit ins Schlafzimmer genommen und mit einem Stück Holz aufs Bett geklopft. Ich fand es bewundernswert, dass er es abgelehnt hatte, gewalttätig zu sein. Er war meiner Meinung, doch ich provozierte ihn. Poppa sagte immer, ich sei ein schwieriger Mensch. Dennoch hielt Peter mich für seinen Retter. Ich wusste nicht genau, was er damit meinte – wovor rettete ich ihn denn? Vor dem Teufel? Meine jahrelange Beschäftigung mit Religion hatte mich gelehrt, dass der Teufel hinter jeder bösen Tat steckte. Besaß der Teufel mehr Einfluss auf Peter als auf andere Menschen, weil seine Kindheit so furchtbar gewesen war? Doch inzwischen hatte ich das Gefühl, ebenfalls zu kämpfen.
»Du bist an Ostern geboren«, sagte Peter oft. »Am Tag der Wiedergeburt, der neuen Hoffnung. Du bist meine Wiedergeburt, meine Hoffnung, du bist alles, was ich auf dieser Welt habe. Du bist Gottes besonderes Geschenk an mich.«
***
An einem Januartag warf der geheimnisvolle Dämon Peter einen vereisten Schneeball ins Gesicht und hätte ihn fast am Auge getroffen. Wir waren an »Dem Ort«, einer kleinen eingezäunten Wiese in der Nähe der Highschool Union Hill, ließen Paws durch den Schnee laufen und lieferten uns eine alberne Schneeballschlacht. Peters Schneeball, weich wie Kuchenteig, hatte mich kurz zuvor an der Schulter erwischt. Als Antwort formte ich eine Kugel aus Schnee und Eis und schleuderte sie wie einen Baseball auf ihn. Sie traf Peter an der linken Wange und hinterließ einen hufeisengroßen roten Fleck.
»Margaux!«, rief er und rieb sich die Wange. »Das hat wehgetan! Das hätte ins Auge gehen können.«
»Tut mir total leid. Ich hatte gerade einen Aussetzer. Du weißt doch, das kommt bei mir öfter mal vor.«
Sich die Wange reibend, fragte Peter: »Kannst du dich überhaupt daran erinnern, den Schneeball geworfen zu haben?«
»Nein, es war genauso wie letztens.«
Einige Minuten lang sahen wir schweigend Paws zu, der Schnee fraß. Am Dachvorsprung der Schule hingen lange durchsichtige Eiszapfen, einige hatten sonderbare Formen und waren mit tumorartigen Buckeln übersät, andere wieder wirkten so scharf wie Sicheln. Immer wenn ich die spitzen Dinger ansah, musste ich schnell den Blick abwenden, sonst gingen mir furchtbare Gedanken durch den Kopf. So stellte ich mir beispielsweise vor, wie ich mir vor dem Spiegel ein Auge ausstach und zusah, wie der weiße, geleeartige Glaskörper aus meiner Hornhaut platzte, oder ich malte mir aus, mir in die Brüste oder in die Scheide zu stechen. Ich sagte Peter, ich glaubte, der Teufel setze mir Gedanken in den Kopf, kranke Bilder, die mir selbst niemals einfallen würden.
***
Peter hatte begonnen, Selbsthilfebücher zu lesen, aus denen er meiner Mutter vorlas, wenn sie das Gefühl hatte, wegen ihrer psychischen Krankheit als Mutter versagt zu haben. »Keine Schuldzuweisungen, keine Vorwürfe«, sagte er dann zu ihr. Er besorgte ihr das Buch Die Kraft des positiven Denkens und brachte ihr bei, ins Kopfkissen zu schlagen und zu schreien, um ihre unterdrückte Wut herauszulassen. Peter und ich entzündeten weiße Kerzen und beteten für ihre Genesung; wir führten sogar
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