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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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Himbeeren hingen. Ich sah Peters Zimmer mit den Mädchenfiguren vor mir: tanzende, Schafe hütende, Tiere fütternde Kinder. Ich sah die Welt in Peters angestrahltem Terrarium und das Backsteinhaus, in dem die Figuren von »Die Geschichte« lebten. Alles, was heilig war, gehörte mir. Es war in meinem Besitz. Ich war in der Kirche. Ich war eine Braut.
    Und ich war Jungfrau, wie die Muttergottes; ich hatte noch nie Geschlechtsverkehr gehabt. Ich trug ein reinweißes Kleid. Peter hatte ein Bild von mir gemacht, als ich in dem Kleid neben einem Kuchen mit vierzehn Kerzen stand. Das Licht in der Küche war ausgeschaltet, es war dunkel, und auf dem Foto konnte man nur ganz schwach die Vitrine erkennen, in der Inès ihr Geschirr aufbewahrte. Ihre Terrine, ihr Teekessel, ihre Teetassen, ihre Kaffeekanne, ihre Schüsseln und Teller, alles stumm wie Eis. Oh, dieses Foto war sonderbar. Meine Augen waren zwei schwarze Punkte; sie sahen aus wie die Flecke im Gras, die nach einem Feuer zurückbleiben. Normalerweise sah ich aus wie vierzehn. Doch auf diesem Bild, sagte Peter, sähe ich aus wie siebzehn oder achtzehn. »Dein Körper in diesem Kleid ist der einer erwachsenen Frau. Wann bist du erwachsen geworden?«
    Es lag nicht am Körper. Es war das Gesicht, das erwachsen war. Die Augen. Peter machte nur Fotos von mir, wenn ich lächelte, und dieses Bild zeigte nur die kühlste Asche eines Lächelns. Auf dem Tisch stand eine Eistorte in Herzform, belegt mit Erdbeeren. Peter und ich. Sonst kam niemand zu unserer Feier. Inès’ Küche war an jenem Tag so still gewesen wie die Kirche heute.
    Wir sprachen unseren Treueschwur. Peter steckte mir den Ring an den Finger. Doch wir küssten uns nicht, weil ich zu viel Angst hatte, jemand könnte uns sehen.
    ***
    Im Schlafzimmer meiner Eltern stand ein Doppelbett, das zu groß für mich war. Oder vielleicht war es auch nicht groß genug. Jede Nacht schlief ich auf der rechten Seite des Bettes ein und erwachte auf der linken, verwickelt in die Bettdecke und mit kleinen Kratzern an Armen, Bauch und Beinen, die ich mir im Schlaf zugefügt hatte. Obwohl meine Mutter im Küchenanbau schlief, den Poppa für sie gebaut hatte, bewahrte sie ihre Schallplatten im Elternschlafzimmer auf. Dort lag sie tagsüber stundenlang, lauschte diesen Platten und starrte stumm auf das runde Neonlicht unter der Decke.
    An einem Samstagabend kam Poppa ins Schlafzimmer marschiert, wo ich im Schein der Leselampe V. C. Andrews las. Zuerst sagte er nichts, sondern starrte nur auf den Plattenspieler. Er war merklich betrunken.
    Nach einer Weile sprach er mich an. »Hör mal zu, nur zwischen uns beiden, ich werfe die Dinger raus. Diese Schallplatten machen sie krank! Nur du und ich wissen, wie das ist, stimmt’s? Tja, du kannst dich wenigstens bei dem alten Mann verstecken. Aber ich sitze hier fest, in der Hölle, mit dieser kranken Frau. Du bist braungebrannt. Weißt du was? Ich bin seit Jahren nicht mehr am Strand gewesen. Ich werde zu einem Schatten meiner selbst. Ich gebe dir mein Geld und mein Blut, damit du leben kannst. Verstehst du das? Dein Leben ist so sorgenfrei. Du musst ihr Gesicht so gut wie nie sehen. Du hast nicht den Mut, das Leid zu ertragen. Du bist derart schwach, schäm dich! Deine eigene Mutter ist dir völlig egal, schäm dich! Als ich acht Jahre war, wurde mein Vater gelähmt wegen seiner Diabetes, und ich blieb an seiner Seite! Ich half meiner Mutter beim Kochen. Schäm dich, dass du es dir so leicht machst. Wenn du nicht wärst, wäre sie anders. Die Schwangerschaft und die Hormone danach haben sie kaputt gemacht. Ich gebe dir mal einen Tipp, glaub einem, der sich auskennt: Werde nicht schwanger, heirate nicht. Sie hat uns mit ihrem Blut besudelt. Wir leben in der Gefangenschaft eines Fluchs. Dieser Fluch hat vier Wände und ein Fenster, durch das man das Leben sehen kann, das man hätte haben können.«
    Poppa setzte sich und starrte auf sein dunkles Ebenbild im großen Spiegel. Dann sprach er weiter, jetzt ruhiger und leiser. »Du hast gesagt, in diesem Zimmer wären Geister. In diesem Zimmer, stimmt’s? Letztens habe ich mitgehört, wie du deiner Mutter erzählt hast, aus der Klimaanlage würde eine Stimme kommen. Das nächste Mal rennst du nicht gleich zu deiner Mutter. Hör mal zu: Beim nächsten Mal hältst du den Mund und lauschst einfach. Vielleicht merkst du dann, dass es nur ein Müllwagen ist, ein heulender Hund oder deine eigenen Schreie. Nur wenn die Welt lautlos ist, wird sie

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