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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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Mitschüler hatten meine Nummer von einer sogenannten »Schneeliste«, ein kopierter Zettel mit den Telefonnummern aller Schüler, damit man sich untereinander informieren konnte, wenn im Winter der Unterricht ausfiel. Trotz unserer jüngsten Vorsichtsmaßnahmen waren Peter und ich zusammen gesehen worden. Die Anrufer hatten gedroht, mich zu vergewaltigen, und wollten wissen, ob ich mit dem alten Mann bumste. Einmal hatte ich mich so aufgeregt, dass ich das Telefon in den Tiefkühlschrank gelegt hatte, so dass man es nicht mehr hören konnte.
    In der Dämmerung stand ich am Drahtzaun, hinter mir unterhielten sich die beiden Männer, und ich beobachtete, wie die Möwen über dem grünen Wasser kreisten, ich roch die grüne Luft, die frittierten Shrimps und die Menschenmassen. Ich steckte einen Vierteldollar ins Fernglas und drehte es nach rechts und links. Mal entdeckte ich ein einsames Boot, dann einen Holzpfahl, einmal eine im Wasser treibende weiße Möwe. Peter kam zu mir und sagte: »Dein Vater ist so betrunken, dass ich ihn hoffentlich nicht ins Haus tragen muss. Weißt du was? Heute war er ganz nett. Was für ein Mensch er wohl geworden wäre, wenn sein Leben anders verlaufen wäre?«
    »Lohnt sich nicht, darüber nachzudenken. Er ist, wie er ist«, sagte ich, und schweigend blickten wir abwechselnd durchs Fernrohr. Jedes Mal, wenn das Geld durchfiel, steckte Peter wieder einen Vierteldollar hinein, bis er kein Kleingeld mehr hatte.
    Wir kehrten an den Holztisch hinter Tony’s Restaurant zurück, wo Poppa saß und sich mit seinem goldenen Zahnstocher in den Zähnen herumpickte. »Eine Möwe hat mir eine Pommes direkt aus der Schale gestohlen! Schoss runter und schnappte sie sich, während ich daneben saß. So was passiert nur selten! Glaubst du, das bringt Glück, Peter? Ist das ein Zeichen, dass alles besser wird?«, fragte er mit schiefem Lächeln, und dann führte er uns vor, wie man ein Zehncentstück unter drei Pistazienschalen hin- und herschob. Er wollte wissen, wie schnell unsere Augen seinen Handbewegungen folgen konnten. Ich gewann jedes Mal, Peter nicht, der sich damit entschuldigte, seine Sehkraft und seine Reflexe hätten stark nachgelassen.
    Auf dem Heimweg lief Peters Lieblingslied Hotel California im Radio, und Poppa sang betrunken mit, er sang von Wein, Messern und einem Biest, das man nicht töten konnte, egal wie oft man auf es einstach.
    ***
    Den Winter über blieb Peter seinem Wort treu: Wir wurden nicht intim miteinander. Dass Peter mich nicht einmal mehr umarmte und küsste, weil es ihn angeblich zu sehr in Versuchung führte, fehlte mir unheimlich. Keine Pornofilme, keine anrüchigen Romane mehr. Mir fehlten die Mädchen aus den Pornos, als wären es meine Freundinnen gewesen; wie oft hatten wir diese Filme angeschaut. Um jede einzelne Darstellerin hatte ich Geschichten konstruiert, Gründe, warum sie in der Pornoindustrie arbeitete, Möglichkeiten, wie sie trotz der Vorurteile der Gesellschaft ein glückliches Leben führte. Peter sagte, wir sollten nicht mehr über Sex und Gewalt sprechen, nicht mal mehr in »Die Geschichte«, da das Reden über Gewalt ihn aggressiv gemacht hätte. Doch was war »Die Geschichte« ohne Sex und Gewalt? Ich schrieb weiter an meinem Roman, wenn Peter mit Inès unterwegs war, und verschärfte ihn als heimliche Wiedergutmachung für die neuen Regeln. Ich zählte die Todsünden in meinem Roman: fünf Vergewaltigungen, darunter eine Gruppenvergewaltigung, sechs Morde, drei Selbstmorde, drei Entführungen, vier Inzuchtfälle und ein flotter Dreier.
    Peter verlangte sogar, dass ich mich anders kleidete, eher wie eine »junge Dame«. Auf einem Flohmarkt kaufte er mir ein weites Kleid mit grauen, roten und schwarzen Streifen, das mir übers Knie reichte. Außerdem – es war fast zu grotesk, um es zu erzählen – wollte er, dass ich mit dem Puppenhaus und den grauen Filzmäusen spielte, als wäre ich sieben Jahre alt. Ich tat es einmal, um ihn zufriedenzustellen, danach weigerte ich mich. Ich war verwirrter denn je zuvor, verärgert über den Umstand, dass er allein zu bestimmen hatte, ob Intimitäten stattfanden oder nicht, so wie er allein damit angefangen hatte. Für was hielt er mich eigentlich – für ein Aufziehspielzeug, mit dem er sich erst nach Herzenslust beschäftigen und das er dann in eine verstaubte Ecke werfen konnte? Ich sehnte mich danach, dass er mich in den Arm nahm, mich streichelte, mich sein Kuschelhäschen, sein Liebes nannte. Es gab

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