Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
niemand anderen, der das tat.
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Peter erzählte mir, er habe weitere Psychologie- und Selbsthilfebücher gelesen sowie die Lebensgeschichte eines Mädchens, das von seinem Vater vergewaltigt worden war. Das habe ihn besonders bewegt. Möglicherweise habe es ihn sogar von seiner Sucht nach jungen Mädchen geheilt, behauptete er. Da ihn der Anblick des Buches quälte, er sich aber nicht überwinden konnte, es wegzuwerfen, schob er es unter seine Matratze.
Vielleicht inspiriert von dieser Lektüre, begann Peter einen Roman über missbrauchte Ausreißer mit dem Titel Die Ausgenutzten , den ich in meiner sauberen, ordentlichen Schrift für ihn niederschreiben sollte. Unsere Streitigkeiten drehten sich jetzt nur noch um diesen Roman; Peter verlangte uneingeschränkte kreative Freiheit. Er diktierte, was ich schreiben sollte, doch ich hübschte den Text in einem poetischen Stil auf, den er als »zu blumig« bezeichnete. Ich hätte ihm gerne vorgeworfen, sein Stil sei zu leblos, hatte aber Angst, er würde mich wieder erbarmungslos mit Nichtachtung strafen. Wir spielten jetzt öfter Schach und gelegentlich Scrabble . Einmal schnappte ich mir zu seinem Erstaunen seine Dame mit meinem Springer und konnte ihn dadurch schlagen. Ich hatte die Züge der Springer – die kompliziertesten Figuren auf dem Brett – durch sorgfältige Beobachtung von Peter gelernt. Er gratulierte mir und sagte, von nun an würde er sich lieber an Scrabble und Rommé halten, weil mein Sieg eine deprimierende Mahnung sei, dass sein Hirn nicht mehr so scharfsinnig arbeite wie früher. Das Bett war ein unebener Untergrund für Brettspiele, doch uns blieb keine große Wahl, da ich mich weigerte, in die Küche zu gehen. »Du bist doch keine Aussätzige«, hatte Peter gesagt. »Richard ist jetzt meistens im Wohnzimmer, und Miguel und Ricky stören niemanden.« Doch ich wollte nicht einmal die Küche und das Vorderzimmer durchqueren, um zum Granada zu gehen. Ich sagte, am liebsten hätte ich einen Tunnel, der von Peters Zimmer direkt zum Auto führte.
Wenn jemand in der Küche war und ich Pipi musste, machte ich in Peters Zimmer in eine kleine Vase; er leerte sie abends in der Toilette, wenn alle ins Bett gegangen waren. Peters Zimmer war nun buchstäblich unsere Welt, abgesehen von Parks, Imbissstuben und Drive-in-Restaurants. Bei ihm gab es alles, was wir brauchten: Bücher, einen Kassettenrekorder, einen Fernseher, unser Ouija -Brett, das Scrabble , unser Schachspiel, die Karten für Poker und Rommé. Anstelle von Sex beschäftigten wir uns in jenem Winter mit Meditation, Visualisierung, sogar mit Astralreisen. Peter sagte, seine Seele hätte seinen Körper schon einmal verlassen und unter der Decke geschwebt, von wo er auf seinen reglosen Körper hatte hinunterschauen können. Er war so erpicht darauf, seinen Körper erneut zu verlassen, dass er das Buch eines Gurus las, dem es angeblich schon über hundert Mal geglückt war.
Peter war immer derjenige, der sich in die Küche wagte, um Kaffee zu kochen und mir einen Sprudel oder ein Eis zu holen. Wenn er nach draußen ging, zog er die Tür direkt hinter sich zu, damit mich niemand sehen konnte. Auf meiner Seite des Bettes hatte ich Oreo -Kekse, Käsecracker, Salzstangen, Plätzchen mit Feigenfüllung, Brezeln, Kaubonbons und eine Packung Kaugummi. Ich besaß einen Vorrat an Taschentüchern, zweimal Kleidung zum Wechseln inklusive Unterwäsche, Damenbinden, einen Bikinitanga, meine Rollschuhe und meine Schultasche mit den Lehrbüchern; wenn Peter in die Küche ging, um mit Inès zu plauschen, machte ich meine Hausaufgaben oder lernte für Prüfungen.
Je mehr Zeit wir in dem Zimmer verbrachten, desto mehr bemühte sich Peter, es zu verschönern. Er hängte noch mehr Weihnachtsschmuck auf: Lamettakränze um die ovalen Bilderrahmen, eine bunte Lichterkette um den Fernseher. Er kaufte sogar drei winzige grüne Eidechsen, Anolis genannt, damit das Terrarium interessanter wurde. Er brachte noch mehr Vorsprünge an und stellte Porzellanfiguren darauf, bis es den Eindruck hatte, dass an der Wand keine Stelle mehr frei war. Nur auf meiner Seite des Bettes blieb die Wand leer, als wartete er darauf, dass ich sie dekorierte.
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Peters senfgelber Granada war von innen voller Hundehaare, auf den Polstern waren Flecke von Ketchup und süß-saurer Sauce, und das Handschuhfach war mit Salz- und Zuckerpäckchen und Servietten verschiedener Fastfood-Restaurants gefüllt. Der Granada war unser zweites Zuhause, und
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