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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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ich war abhängig von unseren regelmäßigen Fahrten, da sie meinem Tagesablauf eine gewisse Struktur gaben.
    Peter spielte gerne seine Kassetten ab, ein sonderbarer Mix: Willie Nelson, Neil Young, Fats Domino, Pink Floyds The Wall , die Eagles und Beethovens Mondscheinsonate . Er sagte, Beethoven vermittele ihm ein Gefühl, das er nicht richtig beschreiben könne, doch am nächsten komme er ihm mit dem Begriff »erhabene Hoffnungslosigkeit«. Immer wieder spulte Peter die Kassette zurück und spielte sie von vorne ab, bis ich zu begreifen begann, wovon er sprach. In letzter Zeit fiel es mir leichter, die Hoffnung aufzugeben. In den Momenten reiner Verzweiflung hatte ich die Kraft verloren, gegen den Strom zu schwimmen; ich ließ mich nur noch treiben. Wenn ich versuchte, einer depressiven Phase zu entkommen, bewirkte es genau das Gegenteil: Ich fühlte mich wie eine Schildkröte, die sich die verrückte Idee in den Kopf gesetzt hat, ihrem Panzer zu entfliehen, weil sie nicht begriff, dass er nicht einfach nur Schmuck oder Schutz war, sondern eng verbunden mit ihrer Wirbelsäule und ihrem Brustkorb, etwas, für das man sich verantwortlich erklären musste, wenn es jemals Frieden geben sollte.
    ***
    In dem Frühling, als ich fünfzehn wurde, kamen Tante Bonnie und Onkel Trevor zu einem seltenen Besuch aus Ohio, reisten aber nach drei Tagen wieder ab, nachdem Poppa mit Onkel Trevor in der Kneipe trinken gewesen war. Mommy erzählte, dass Poppa zu viel intus gehabt und ein Wort zum anderen geführt hätte. Ich war sauer auf Poppa, alles kaputt gemacht zu haben. Ich liebte Tante Bonnie. Sie war schwungvoll und lustig mit ihrem Kopf voll hüpfender Locken und ihrem aufgesetzten Südstaaten-Akzent. Ich stellte mir vor, dass meine Mutter wie Tante Bonnie geworden wäre, wenn sie nicht so oft die falschen Medikamente genommen hätte. Wenn meine Mutter mich eine Weihnachts- oder Osterkarte an sie unterschreiben ließ, betitelte ich sie immer als »Mom Nr. 2«. Als junge Frau war Tante Bonnie alkoholabhängig gewesen, jetzt kämpfte sie gegen ihre schlechten Phasen, indem sie sich ehrenamtlich engagierte, eigene Kochbücher zusammenstellte und an Veranstaltungen der Kirche teilnahm. Tante Bonnie, die nie Kinder gehabt hatte, erklärte sich für glücklich, bis auf eine Sache: Mit fünfzig Jahren habe sie ein Baby adoptieren wollen, aber es war zu teuer gewesen und die Warteliste zu lang.
    Tante Bonnie sagte, Peter sei ein »Schatz«, als sie ihn bei unserem einzigen gemeinsamen Mittagessen im El Pollo Supremo kennenlernte. Sie erzählte von einem Jungen aus der Highschool, in den sie verliebt gewesen war. Auch der hätte ein Motorrad gehabt. Obwohl Peter seines längst verkauft hatte, erzählte er beim Essen die ganze Zeit davon, als wollte er Tante Bonnie beeindrucken. Sie unterhielt sich mit ihm, als sei er zehn Jahre alt, und als ich länger drüber nachdachte, wurde mir klar, dass er es mit Inès auch so gemacht hatte.
    Hinterher tat Peter so, als sei das Steuer des Autos der Lenker seiner alten Suzuki . Einmal ging er das Risiko ein, mit mir Rollschuh auf der Bahn zu fahren, obwohl ein schwerer Sturz ihn ohne weiteres in den Rollstuhl hätte bringen können, wie er behauptete. Unter den zuckenden Stroboskoplichtern und der funkelnden Discokugel fiel mir Peters manischer Blick beim Laufen auf, er probierte sogar verschiedene Tanzschritte, nachdem er gemerkt hatte, dass ich einen jungen Breakdancer bewunderte. Ich wusste nicht, wie ich ihm begreiflich machen sollte, dass er zu alt war, dass er nicht nur sich in Gefahr, sondern mich in Verlegenheit brachte. Beim Pärchenlauf wollte er meine Hand halten, aber ich sagte, ich hätte Hunger, so dass er mir eine Brezel holte, während ich traurig allein dasaß, während die anderen Mädchen in Begleitung von Freundinnen oder Freunden im gleichen Alter vorbeisausten.
    ***
    Wenn ich nicht zur Schule musste, stand ich normalerweise früh auf, um meinen Roman auf einer elektrischen Schreibmaschine zu tippen, ein Geschenk von Poppa, doch in jenem Sommer schlief ich immer bis ein Uhr mittags, denn dann holte Peter mich zu unserer Nachmittagstour ab. Meine Haut sah körnig aus, meine Fingernägel brachen ständig ab. Schlimmer als alles andere war, dass die Welt feindselig wurde. Es kam mir vor, als würden überall grellgrüne Grashalme vorspringen und mich aufschlitzen. Lieder, die ich früher mochte, schmerzten mir nun in den Ohren, und meine Glieder fühlten sich losgelöst an,

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