Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
Fremder im Spiegel
Im November kaufte sich Peter ein Auto, einen Ford Granada , Baujahr 1978, und meine Mutter wurde wieder wegen Depressionen und Paranoia eingewiesen. Poppa weckte mich um halb sechs in der Früh, um mir zu sagen, Mommy hätte zugegeben, Glasreiniger getrunken zu haben, und würde sich jetzt übergeben; wir müssten sie unverzüglich in die Psychiatrie bringen, ob Peter wohl kommen könne, obwohl es noch so früh sei? Ich sagte, Peter hätte jetzt ein Auto, und Poppa war erleichtert.
Bevor er mein Schlafzimmer verließ, sagte er: »Ich bin immer zu Hause gewesen, weißt du, weil sie so gefährdet war. Seit drei Wochen bin ich abends nicht mehr vor die Tür gegangen. Jede Nacht habe ich mir ihren Unsinn angehört. Selbst Alkohol konnte mich nicht beruhigen; es war, als würde mir das Blut aus den Poren quellen. Dieses Gerede von der Mafia. Oh, die Mafia ist hinter Margaux her! Ich habe ihr gesagt, das wären nur irgendwelche Idioten am Telefon. Sie besteht darauf, dass es die Mafia ist, aber ob sie das wirklich glaubt oder es nur behauptet, um mich in den Wahnsinn zu treiben, weiß ich nicht. Sie erzählt, auf der Straße würden sich die Leute die Augen reiben, als würden sie weinen. Und sie glaubt, dass die Polizei sie festnehmen will. Weshalb denn, frage ich sie, aber sie gibt keine Antwort. Sie singt auf der Straße vor sich hin und blamiert ihre Familie! Sie treibt uns so weit, dass wir uns verkleiden müssen, wenn wir nach draußen gehen, damit niemand weiß, dass wir mit ihr verwandt sind. Sie droht, sie würde aufs Dach klettern und sich in Brand stecken wie eine Hexe auf dem Scheiterhaufen, aber sie nimmt nicht wahr, dass sie uns mit sich in den Tod reißen würde!«
Eine Weile schwieg Poppa zitternd. Vornübergebeugt saß er auf meinem Bett. »Letztens bin ich bei der Arbeit zur Toilette gegangen. Ich habe mich im Spiegel betrachtet. Ich konnte nicht glauben, wie blass ich war. Ich sah aus wie eine zweitausend Jahre alte Mumie. Es gibt nichts Schrecklicheres, als in den Spiegel zu schauen und dort einen Fremden mit deinen Kleidern zu sehen. Ich spritzte mir Wasser ins Gesicht. Ich dachte: Ich muss meine Krawatte richten. Ich muss wieder zurück an die Arbeit. Dies ist mein Schicksal. Ich sollte aufhören, alles in Frage zu stellen. Aber weißt du, was dort auf der Toilette mit mir geschah? Wasser lief mir das Gesicht hinunter. Zuerst dachte ich, es käme aus dem Wasserhahn, doch dann merkte ich, dass es aus meinen Augen kam, es waren Tränen, und ich konnte sie nicht zurückhalten! Was ist bloß mit mir passiert? Was ist passiert?« Er stand auf. »Wir nehmen sie jetzt mit, wir alle. In seinem neuen Wagen, was war das noch mal für einer?«
»Ein Granada «, sagte ich. Ich wollte nirgends mit Poppa hin; ich ertrug sein Gerede über meine Mutter nicht, und über etwas anderes sprach er nicht. Poppa hatte in mir das Bild von meiner Mutter eingepflanzt, die auf dem Dach verbrannte. Ich wandte den Blick ab, konnte es einfach nicht verdrängen.
»Wir fahren zusammen mit dem Granada hin, lassen sie ins Krankenhaus einweisen, und dann gehen wir was essen. Wie wär’s mit City Island?« Etwas Schlimmeres hätte ihm nicht einfallen können. Dort waren wir einst als Familie hingegangen – ich, er und Mommy.
Er bemerkte meinen Gesichtsausdruck und fügte fast flehend hinzu: »Wir können die Möwen mit Pommes frites füttern. Wir können frittierte Shrimps essen. Du kannst Piña Colada trinken. Als du klein warst, hast du immer die Papierschirmchen gesammelt. Du hattest eine ganze Blechdose voll, an die fünfzig Stück. Ich hab sie irgendwann gefunden und dachte: Was will sie damit? Hebt sie sie auf für ein Leben voller Regentage?«
***
In City Island trug ich einen Samtschlapphut, den mir der Seewind immer wieder abzuluchsen versuchte. Poppa und ich waren betrunken; Poppa hatte versucht, Peter ebenfalls zum Trinken zu verleiten, doch der entschuldigte sich damit, noch fahren zu müssen. Poppa war so angeheitert, dass er seine Nase an meiner rieb, und Peter machte ein Foto davon. Poppa und Peter setzten sich an einen Holztisch und unterhielten sich darüber, was am besten für meine Mutter sei, wenn sie sich nicht bald erholte: eine geschlossene Anstalt, Elektrokrampftherapie? Oder einfach neue Medikamente? Ich beteiligte mich nicht an dem Gespräch. Ich gab mir die Schuld. Wenn ich nur öfter zu Hause gewesen wäre. Die Anrufe meiner Schulkameraden hatten Mommy paranoid gemacht.
Weitere Kostenlose Bücher