Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
zusammenhanglos, als wären meine Knochen durcheinandergewürfelt. Ich starrte Dinge an, beispielsweise einen Riss in der Wand oder meine Handfläche, und bekam das Gefühl, nicht genug Kraft zu haben, um meinen Blick davon zu lösen. Ich musste meinem Leben entfliehen, aber ich hatte Angst, mich umzubringen. In der katholischen Lehre, mit der ich aufgewachsen war und nach der ich in gewisser Weise immer noch lebte, war Selbstmord eine Todsünde, die mit den Feuern der Hölle bestraft wurde. Doch war mir nicht einsichtig, warum jemand, der bereits litt, noch mehr bestraft werden sollte. Ich lebte in Furcht vor dem Tag, wenn mir selbst diese Drohung nichts mehr bedeutete, wenn die Schmerzen so stark würden, dass ich keine andere Wahl hätte, als zur Tat zu schreiten, so wie Mommy es getan hatte.
Der zweite Selbstmordversuch meiner Mutter war Anfang Juni gewesen. Sie war losgegangen, hatte eine Mauer in Weehawken gefunden und war hinuntergesprungen. Sie brach sich den Knöchel. Unsere regelmäßigen Besuche in der psychiatrischen Abteilung machten bei mir alles noch schlimmer, auch bei Poppa. »Ich ertrage es nicht, Verrückte zu sehen«, sagte er eines Abends in der Küche zu mir. »Für mich ist es so, als würde ich in Dantes Höllenkreise vordringen. Die Geräusche der Essenswagen, der Geruch von Essen und ungewaschenen Körpern; da kommt es mir hoch. Diese wirren Gesichter – einige grinsen anzüglich, andere kreischen wie Untote, wieder andere starren dich an, als wärst du die Ursache ihrer Qualen. Ich sag dir was, in diesen Irrenanstalten gibt es viele kranke Menschen, aber deine Mutter ist einer der kränksten. Ich kenne keinen anderen Mensch, der so verdreht und kaputt ist. Eines habe ich über diese Frau herausgefunden: Sie mag alles verkehrt herum; sie mag es lieber dreckig als sauber, lieber kaputt als heil, lieber Chaos als Ordnung; für diese Frau bedeutet Krankheit Gesundheit. Hörst du mir zu? Werde niemals so wie sie, denke niemals so wie sie! Auch wenn sie es vielleicht nicht absichtlich tut, aber sie macht alle um sie herum so krank, wie sie selbst ist.« Poppa tat, was er immer tat: Mommy die Schuld geben, obwohl es seine Schuld war, dass sie so krank war. Bei seinen Lügen drehte sich mir der Magen um; er merkte nicht mal, dass meine Mutter normal wäre, wenn sie ohne ihn leben würde. Poppa fuhr fort: »Aber du bist auch nicht unschuldig. Du bist eine Last für dieses Haus! Hör zu, was ich dir jetzt sagen werde! Deine sorgenfreien Tage sind vorbei! Dieser Mann hat ein Auto: Lass dich von ihm mehrmals die Woche ins Krankenhaus fahren! Zeig ihr, dass du sie unterstützt! Kümmer dich um sie! Auch wenn sie sich nicht richtig um dich gekümmert hat, hat sie ihr Bestes getan. Sie hat dich neun Monate im Bauch getragen, deshalb ist es deine Pflicht. Ich gebe meine Last an dich weiter. Sie will dich! Ihr Fleisch und Blut!«
Ich war Peter dankbar, dass er mich begleitete. Wenn wir Mommy besuchten, spielte er Ping Pong mit ihr. Einmal schlug er vor, es mit einem Brettspiel wie Monopoly , Halma oder Backgammon zu versuchen, aber bei jedem Set fehlten Teile. Also war Ping Pong unsere einzige Möglichkeit, auch wenn meine Mutter nicht lange auf ihrem gebrochenen Fuß stehen und sich nicht schnell bewegen konnte. Die Schwester in der Psychiatrie meinte, Mommy könne von Glück sagen, dass sie nicht gelähmt oder tot sei. Außerdem habe sie Glück, so eine treue Tochter und einen liebevollen Ehemann zu haben; wenn wir sie regelmäßig besuchten, würde es ihr bald wieder gut genug gehen, um nach Hause zurückzukehren. Ich hingegen fragte mich oft, ob unsere Besuche wirklich gut für sie waren und ob sie sich überhaupt freute, uns zu sehen. Sie konnte kaum lächeln, ihre Augen waren immer weit aufgerissen wie die eines Babys, bloß verstörte bei einem Erwachsenen, was bei einem Kind niedlich aussah. Ihr Lachen war unnatürlich verlangsamt. Sie schlurfte, als trüge sie Ketten um Arm- und Fußgelenke, und ihre dünner werdenden gräulich-braunen Locken hingen schlaff und ungewaschen herunter. Ich gab ihr Küsse und streichelte sie, doch es schien sie nicht aufzuheitern. Ich wusste, dass ich das nicht erwarten durfte. Ich versuchte, nicht entsetzt zu sein, aber in einer psychiatrischen Abteilung konnte man gar nicht anders empfinden, wenn man ein Herz hatte. Menschliches Leid war überall, wohin man auch sah.
»Sie ist unglaublich stark«, hörte ich einmal eine Schwester über mich sagen. Wenn sie
Weitere Kostenlose Bücher