Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
hatte. Peter begann zu weinen und streichelte den großen Hund. »Danke, danke, du bist mein bester Freund«, sagte er zu Paws, als er das Zimmer verließ.
Peter kam mit einem Metzgermesser zurück, das er mir reichte. Dann kniete er sich vor mich hin und sagte, ich solle ihn umbringen.
»Setz es hier an«, sagte er, und ich hielt das Messer an seinen Adamsapfel. »Kannst du mir vergeben? Wenn nicht, schneidest du mir besser die Kehle durch. Ich habe es verdient.«
Ich konnte nichts sagen oder wollte nicht. Langsam ließ ich das Messer sinken.
»Vergibst du mir?«, fragte er erneut und umklammerte mein Handgelenk.
Ich brachte ein Nicken zustande, und er ließ meine Hand los. Ich legte das Messer neben seine Zigarettenschachtel und war unglaublich erleichtert, es los zu sein. Die Pflanzenlampen leuchteten so hell, dass sie fast schon blau wirkten. Ich war so sonderbar ruhig, dass es schon an Euphorie grenzte. Dieses Gefühl hatte ich oft, wenn wir uns so gestritten hatten.
»Schätzchen«, sagte Peter, immer noch auf den Knien. »Früher konnte ich dich zum Lachen bringen. Da hast du gelacht. Wie kann ich dich wieder glücklich machen?«
Ich antwortete nicht. Ich betrachtete meine Hände, meine langen schmalen gespreizten Finger, zwischen denen man die Häute sah. Peter hatte einmal gesagt, ich hätte Pianistenhände. Ich untersuchte den linken Handteller und dachte daran, dass Grace mal erzählt hatte, wenn die Linien darauf ein »M« bildeten, würde man von der Gottesmutter Maria beschützt. Ich sah das »M« und lächelte, weil ich wusste, dass es stimmen musste.
***
Als Ricky und Richard im Sommer auszogen, war das für mich ein weiterer Beweis, dass man große Risiken auf sich nehmen und radikale Veränderungen wagen musste. Ricky beschloss, mit seiner Freundin Gretchen zusammenzuziehen; Peter mochte sie nicht, obwohl sie gefestigter wirkte als Rickys Ex-Freundin Audra. Einmal war Miguel nach Hause gerannt gekommen und hatte Peter geholt, weil Audra sich mit Ricky stritt und ein Taschenmesser hatte. Ich hatte die beiden begleitet. Als wir in der Schule ankamen, drohte Audra, sich vor den Zuschauern, die sich eingefunden hatten, die Kehle durchzuschneiden. Ricky versuchte, ihr das Taschenmesser zu entwenden, wobei sie ihn irgendwie an der Hand verletzte. Danach versöhnten sich die beiden wieder, als sei der Anblick von Blut nötig, um sie daran zu erinnern, wie sehr sie sich eigentlich liebten.
Als Ricky auszog (und zumindest meiner Schmach und den Qualen ein Ende bereitete, die ich jedes Mal durchlitt, wenn ich ihn sah), wurde es in der Dachkammer so still wie in einem Verlies. Seine neue Freundin Gretchen war eine Kubanerin, ein Grufti, die nur Schwarz anzog, außer zu Beerdigungen, wie Peter sagte, da lief sie in Weiß auf; außerdem trug sie Perücken, obwohl ihr Haar völlig normal aussah, was Peter überhaupt nicht verstand. Er nannte sie immer die »Perückenhexe«. Sie hatte einen dreijährigen Sohn, der von ihren Eltern versorgt wurde (sie zahlten auch die Wohnung). Schon ganz zu Beginn ihrer Beziehung zu Ricky hatte sie verlangt, dass Ricky in ihrer Wohnung übernachtete. Ich spürte, dass es böses Blut zwischen Peter und Gretchen gab, konnte mir aber nicht so recht vorstellen, was sie miteinander zu tun gehabt haben mochten, ohne dass ich es mitbekommen hatte. Ich selbst hatte ein paar Mal mit ihr gesprochen und fand, dass sie genauso nett war wie die anderen Mädchen vom Dachboden.
Richard war in ein Zelt im Nationalpark Bear Mountain gezogen, weil er hoffte, die Natur würde ihn von seiner Kokainsucht heilen. Seit einiger Zeit ging es bergab mit ihm – er hing nur noch im Haus herum, ohne Hemd, mit einem Charles-Manson-Bart und Armeehose und einer Kette aus Adlerfedern. Neuerdings beschäftigte er sich mit der Spiritualität der Indianer, er duschte nicht mehr und sprach davon, sein Seelentier zu suchen. Seine letzte Maßnahme war gewesen, ein Zelt auf einem Campingplatz aufzuschlagen, sich mit Unmengen Dosen und einem Fernglas einzudecken, um einen Rotschwanzbussard oder eine Ohrenscharbe zu beobachten. Ich wünschte ihm alles Gute. Am Wochenende besuchte Inès ihn manchmal in seinem Zelt und blieb über Nacht. Wenn sie zurückkam, hatte sie rote Wangen und strahlte glücklich. Peter sagte, dass niemand Inès so glücklich machen könnte wie Richard; er sei ihre Droge, so wie Ricky die von Gretchen sei; so wie ich seine Droge sei und er meine.
Miguel blieb allein auf dem Dachboden.
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