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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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erkannte, wie unordentlich es hier aussah. Die Klamotten der Jungs, Pappteller, Pappbecher und Karten flogen auf dem Boden herum. Ich hob eine Karte auf und sah, dass es eine Sammelkarte von Garbage Pail Kid war, auf der ein dickliches puppenähnliches Kind auf einem Nagelbett lag. Ich hatte nicht gewusst, dass Miguel und Ricky so was sammelten, und die beiden sanken ganz gehörig in meiner Achtung; ich wusste ja, dass Jungen eklige Dinge mochten, aber das war einfach zu viel!
    Im Schneidersitz setzte ich mich auf den Boden und begann, mir die Karten anzusehen. Ich fand sie total abstoßend, konnte dem Drang aber trotzdem nicht widerstehen, sie zu betrachten. Auch die Kinder in meiner Schule sammelten inzwischen diese Bilder, und einige Mädchen sangen ein Abklatschlied, das genauso schlimm war:
    Wo, wo, wo? Wo bist du? Trau dich raus und zeig dich!
    Ich knall dich ab, das macht mir Spaß,
    stech dir die Augen aus – überall läuft Blut heraus!
    Sonst hab ich Mädchen verhauen,
    Jetzt bin ich groß und schlag mich mit Jungs,
    mit Jungs, mit Jungs, mit Jungs!!
    Jetzt bist du’s mit Apfelmus.
    An jenem Tag dachte ich an das Krankenzimmer in der Schule, den tröstlichsten Ort der Welt. In letzter Zeit hatte ich oft Bauchschmerzen gehabt. Im Büro von Schwester Mary, der Schulkrankenschwester, gab es eine kleine Kammer mit weißer Decke, weißen Wänden und steifen weißen Bettlaken, dazu ein weißes kuscheliges Kopfkissen und ein kleines braunes Kreuz, an dem ein gekreuzigter, aber glücklich wirkender Jesus mit ausgestreckten Armen hing, die Füße festgenagelt, eine Dornenkrone auf dem gesenkten Haupt. Schwester Mary und ich hatten ein Ritual, das wir jedes Mal zelebrierten: Sie nahm meine Hand, führte mich zu dem weißen Bett und sagte dann, ich solle ganz flach und ruhig atmen und die Gestalt Jesu am Kreuz anschauen, die mir Trost und Kraft spenden würde.
    Dort lag ich dann auf dem weißen Bett, die Knie aneinandergedrückt, die Arme an den Seiten, und wartete darauf, dass ein Prickeln meine Beine hinaufschoss und sich das Blut in meinen Füßen verdickte. Langsam breitete ich die Arme aus bis zu den oberen Ecken des Betts: rechter Arm, Handfläche nach oben, linker Arm, Handfläche nach oben. Die Beine gerade, die Knie leicht angehoben, die Füße von den Nägeln festgehalten. Brustkorb, Ellenbogen, Bauch, Knöchel, Augenwimpern – alles unter Kontrolle. Haare, Fingernägel, Hüften, Schienbeine, Augen – alles unter Kontrolle. »Seid ruhig«, sagte ich zu meinen Körperteilen wie der Dirigent eines großen Orchesters, »ihr steht jetzt unter meiner Regie, mein Kopf hat euch alle im Griff.« Ich spürte, wie die winzigen Härchen in meiner Nase ebenso gehorchten wie die Behaarung auf meinen Unterarmen, Oberschenkeln und Waden. Ich hörte, wie sich die Tore zu einem bebenden Himmel öffneten, der Handflächen, Sommersprossen, Brustkorb, Rippen, Hüften, Kiefer und intime Stellen zu sich heimrief. Wie Noah, der die Tiere paarweise zur großen Arche aus Zedernholz führte, brachte ich mein Herz, mein Trommelfell, meinen Nabel in den weiten weißen Frieden. Wenn jedes Teil von mir in der Arche verstaut und auf die wogenden Wellen geschickt worden war, kam der Frieden, einschläfernd wie die Sonne, und wärmte das Holz des Kreuzes, an dem Jesus hing, wärmte die Dornen, die in seine Stirn stachen, fing sich auf den Köpfen der Nägel in seinen Füßen und Handflächen.
    ***
    Allein auf dem Dachboden, fand ich, dass die rosa Holzschaukel an den geflochtenen braunen Seilen schäbiger als sonst aussah. Ich setzte mich darauf und stieß mich mit den Füßen ab, merkte aber schnell, dass ich allein nicht hoch genug kam.
    Ich ging zu dem Glaskasten, in dem sich das Meerschweinchen in eine Ecke drückte. »Wach auf!«, sagte ich und schlug gegen die Scheibe. »Wach auf!«
    Als das Tier seinen wuscheligen Kopf reckte, hob ich den Maschendraht an, der die Decke seines Verschlags bildete. Ich stellte mir vor, dass ich dort unten und der Draht über meinem Kopf sei, sah die Löcher darin vor mir, sah, wie er sich plötzlich anhob, eine Hand nach mir griff und meinen Körper umfasste. Ich wurde hochgehoben, immer höher von der Hand, die mich ganz vorsichtig hielt, und dennoch hatte ich Angst. Blackhead hatte Angst. Armer Blackhead! Ich küsste sein Fell. Ich hielt ihn mir vors Gesicht und atmete seinen heißen Nagerduft ein. Armes, armes Baby, das aus seinem schönen kleinen, warmen Kasten gehoben wird! »Aber draußen ist

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