Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
ihre Arme umschloss.
Mein Blick fiel auf das Foto gegenüber, das ein lächelndes blondes Mädchen zeigte. »Ach, das ist Jill«, sagte Peter. »Sie und ihre Mutter kamen letzten Sommer oft her, nachdem Karen weg war. Sie spielte mit Jenny und Renee. Sie ist hübsch, nicht?«
Ich schlug das Album zu.
Meine Mutter kam aus dem Wohnzimmer in die Küche und sagte zu Peter: »Ich habe der Amerikanischen Krebsgesellschaft deine Adresse gegeben, sie schicken dir eine Broschüre über die Untersuchung. Jetzt gucke ich mal, ob ich Maria erreichen kann. Ich nehme doch nicht euer Telefon in Beschlag, oder?«
»Mach dir keine Sorgen, Sandy«, sagte Peter. »Ich habe doch gesagt, dass wir es nur selten benutzen. Eigentlich bräuchten wir gar keins. Solange es kein Ferngespräch ist, macht es nichts.«
Meine Mutter nickte und ging Maria anrufen. Peter sagte: »Margaux, willst du mal mein Zimmer sehen? Ich glaube, ich habe es dir noch nie gezeigt.« Das stimmte. Wir hielten uns immer in der Küche, im Garten oder im Wohnzimmer auf, deshalb war ich neugierig auf Peters Zimmer. Es ging direkt von der Küche ab. An der Tür hing ein Holzschild mit der Aufschrift »Sklavenquartier«. »Das ist ein Witz für Inès«, sagte er. »Weil ich so viel im Haus erledige.«
Als Erstes bemerkte ich die Fotos von mir als Achtjähriger. An den Wänden hingen drei große ovale Bilder, und mitten an der Hauptwand, über einer Sammlung von Topfpflanzen, neben der ein beachtlicher Fernseher mit Videorekorder und Nintendo gerät standen, war eine noch größere Aufnahme von mir und Paws. Auf dem Foto trug ich meinen blau-weißen Badeanzug und hielt Paws am Halsband fest.
»Ist das nicht ein schönes Bild?«, sagte Peter. »Ich hab noch eins von dir in dem himbeer-grau gestreiften T-Shirt mit dem Peter-Pan-Kragen, das du immer anhattest. Kannst du dich daran erinnern? Hast du es noch?«
»Nein, das ist mir zu klein geworden.«
»Und dieses Bild da«, er zeigte auf die linke Seite, »das sind Karen, Paws und du, als ihr vor dem Weihnachtsbaum herumalbert.« Ich wirkte glücklich auf dem Foto, doch aus irgendeinem Grund konnte ich mich nicht an das letzte Weihnachtsfest erinnern, und bei dem Gedanken daran wurde mir übel. »Wer ist das?«, fragte ich und zeigte auf ein anderes Bild.
Peter schmunzelte. »Ob du’s glaubst oder nicht, aber das ist Jill. Dasselbe Mädchen, das du gerade im Album gesehen hast. Sie sieht hier ganz anders aus, nicht? Ich habe das Foto von dir links aufgehängt, direkt gegenüber von Jill, weil ihr beide genau den gleichen Blick habt, auch wenn du brünett bist und sie blond. Dieser besondere Blick der Liebe, und wenn ich das sagen darf, der Bewunderung. Dieses Leuchten, diesen Blick, den findet man nur einmal im Leben. Ihr wart beide acht Jahre alt. Und weißt du was? Ihr beide saht dabei mich an. Zwei Mädchen, gleichaltrig, eines mit dunkler Haut und schwarzen Augen, und das andere hellblond mit blauen Augen, aber es ist, als wärt ihr zwei Hälften einer Person. Und beide seid ihr voller Liebe und Bewunderung; wenn ich morgens aufwache, sehe ich diese beiden Engel an, und sie geben mir die Kraft, den Tag zu beginnen.«
Auf dem Foto sah Jill nicht wie ein Mädchen aus Fleisch und Blut aus, so wie ich und meine Freundinnen – nicht mal wie Grace. Peters Jill war zu vollkommen, zu strahlend. Im Fotoalbum war sie ein ganz normales Mädchen mit Pferdeschwänzen und Hamsterbäckchen gewesen, doch auf diesem Bild war ihr Gesicht leicht zur Seite gedreht, so dass es schmaler wirkte, ihre Locken waren platinblond, und ihre Augen hatten das unechte Blau von Christbaumlichtern. Sie hatte sogar ein niedliches Muttermal am Auge, das Peter ihren »Schönheitsfleck« nannte. Ihr Anblick machte mich gleichzeitig wütend und ergriffen; ihr gutes Aussehen zog meinen Blick immer wieder auf sich, unbeirrbar wie der Durst, und jedes Mal, wenn ich sie betrachtete, fühlte ich mich schlecht, weil mein Bild auf der linken Seite nicht annähernd so strahlend war wie ihres.
»Und siehst du, dass ich einen dunklen Rahmen genommen habe als Kontrast zu ihrem blonden Haar und bei dir einen Goldrahmen. Als ich die Fotos vergrößern ließ, waren sie viereckig. Aber ich kann keine Ecken leiden, deshalb habe ich sie so zurechtgeschnitten, dass sie in die ovalen Rahmen passen. Das ist eine Spezialität von mir. Es gibt keine Quadrate oder Rechtecke in der Natur, warum also sollte ich lauter rechte Winkel in meinem Zimmer haben? Ich will noch
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