Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger
so ist, wie es sein sollte. Es ist lustig; jedes Mal, wenn ich es mir ansehe, habe ich das Gefühl, etwas Neues zu entdecken, das nicht ganz stimmt.«
15
Die Mitgift
Kurz nach meinem zwölften Geburtstag begann Peter davon zu reden, Zungenküsse seien romantisch. Für mich waren sie nicht annähernd so romantisch wie kuscheln, doch ich wusste, wenn er einmal damit anfing, würde er nicht wieder lockerlassen. Winnie hatte vor kurzem am Telefon erzählt, dass sie es ein paar Mal mit einem Jungen aus ihrer Gegend gemacht hätte, und drängte mich, mit ihren Erfahrungen gleichzuziehen. Wir waren die ältesten unter den Freundinnen, unsere Körper waren am weitesten entwickelt, und jetzt hatte ich auch endlich meine Periode. Ich malte mir aus, dass ich Winnie nach dem Kuss anrufen und ihr schildern würde, wie es gewesen war, wobei ich so täte, als hätte ich es mit Ricky probiert. Peters Drängen hatte meinem Gedächtnis auf die Sprünge geholfen: Wir hatten uns schon mit der Zunge geküsst, da hatte er ein Spiel daraus gemacht. Diesmal, sagte ich ihm, müsse er mir fünfzig Cent dafür geben; ich hatte das gehässige Bedürfnis, ihm irgendwie begreiflich zu machen, dass ich es nur bei jemandem wie Ricky umsonst tun würde, er jedoch zahlen musste, weil er alt war. Das gab mir ein gutes Gefühl, es war wie eine Wiedergutmachung, weil ich ihm so viele Zungenküsse umsonst gegeben hatte, als ich noch zu jung war, um meinen eigenen Wert zu kennen.
Peters Bezahlung wurde so zu einer Art Mitgift, wie sie in Ländern wie Indien jungen Bräuten mitgegeben wird; Peter dozierte oft, wie zurückgeblieben Amerika und der Großteil von Europa wären, weil sie Männern nicht erlaubten, junge Mädchen zu heiraten. Er wies darauf hin, dass die Natur mir durch das Einsetzen meiner Periode mitteilen wollte, dass ich reif zum Heiraten und Kinderkriegen sei. Doch in dieser kranken Kultur würde ich davon abgehalten, meinen wahren Instinkten zu folgen.
Als Peter und ich uns hinter einem weißen Lkw mit der blau-roten Aufschrift Pathmark küssten, ließ ich die Augen geöffnet, auch wenn meine Zeitschriften warnten, das sei nicht romantisch. Peter hatte die Augen geschlossen. Seine Bartstoppeln kratzten ein wenig. Ich betrachtete den Lkw mit der Nummer 31186. Alle Laster hatten so eine Nummer. Ich sah einen großen Müllcontainer und einen Berg von Kisten. Peters Mund schmeckte nach Asche und Kaffee und war trocken, als hätte er nicht viel Speichel. Ich wollte nicht darüber nachdenken, doch ich wusste, dass ich angeekelt war. Ich liebte ihn, aber ich mochte das Gefühl nicht, wenn seine Zunge meine berührte, und stellte mir deshalb vor, er sei Ricky, doch es funktionierte nicht. Ich wusste, dass Ricky keine Bartstoppeln hatte. Ich wusste, dass Ricky nicht nach Kaffee schmecken würde.
»Fünfzig Cent bitte!«, sagte ich lächelnd, als wir aufhörten.
»Ich liebe dich, mein Schatz! Ich liebe dich wirklich.« Er zog mich an sich, und sein Körper umschloss meinen.
***
Einen Monat vor Ende des Schuljahres kam die schlechte Nachricht: Winnies Mutter schickte ihre Tochter auf eine teure Privatschule nur für Mädchen. Wir wollten alle mit ihr kommen, doch nur Irenes Familie erlaubte es. Ich hatte Angst, an Holy Cross auf meinen alten niedrigen gesellschaftlichen Status zurückzufallen.
»Wenn du die Schule wechseln willst, dann geh auf eine öffentliche, das spart mir Geld«, sagte Poppa zu meiner Überraschung. Jahrelang war er dagegen gewesen, dass ich mich mit Kindern von staatlichen Schulen abgab, doch jetzt schien es ihm egal zu sein. Als ich mit Peter über die Angelegenheit sprach, meinte er, es sei eine gute Idee; die staatliche Schule war nur zwei Häuserblocks von unserem Haus entfernt, so dass ich nicht mehr von Holy Cross mit dem Schulbus heimfahren musste und eher bei ihm sein konnte.
***
Kaum war die Schule vorbei und die Ferien hatten begonnen, marschierten meine Mutter und ich schon um neun Uhr morgens zu Peter hinüber. Sie erlaubte sogar, dass ich mit ihm auf dem Motorrad bis nach New York City fuhr. Mich beeindruckten die tätowierten Punker mit ihren Irokesenschnitten im Washington Square Park. Ich bewunderte die Musikläden in East Village, aus denen Heavy Metal dröhnte und wo Räucherstäbchen abbrannten. In Klamottenläden arbeiteten Punkmädchen mit hohen Schnürstiefeln, die mir sagten, es sähe bestimmt super aus, wenn ich mir die Haare violett färben würde. An den Ständen wurden riesige Kreuze in
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