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Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger

Titel: Tiger, Tiger - Fragoso, M: Tiger, Tiger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Margaux Fragoso
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nicht mal Ecken unter meiner Decke sehen. Siehst du, was ich mit der Decke gemacht habe?«
    Ich schaute hoch.
    »Siehst du?«, sagte Peter grinsend. »Ich habe mir dieses Riesenstück blauen Stoff geholt – Miguel, Ricky und Richard haben mir geholfen –, alle hielten ihn hoch, während ich ihn in den Ecken festnagelte. Ich habe den Stoff so drapiert, dass er an Meereswellen erinnert. Vorher war die Decke hässlich. Jeden Tag musste ich hinaufschauen zu all den Ecken, die exakt gleich aussehen, und je mehr ich diese identischen Ecken mit ihren hässlichen Rissen und Flecken anstarrte, desto deprimierter wurde ich. Aber wenn ich jetzt hochgucke, ist es so, als wäre das Meer direkt über meinem Kopf. Weißt du, was ich mir überlegt habe? Wenn ich keine Lust mehr auf das Meer habe, bastele ich mir Sterne, weiße Papiersterne und klebe sie fest, dann ist es, als hätte ich den Himmel über mir. Aber keinen Stadthimmel, sondern einen Landhimmel, wie der Himmel im Nationalpark Bear Mountain. Als würde ich dort zelten, und alle Sterne kommen heraus.«
    »Ich war noch nie zelten. Ich habe noch nie die Sterne gesehen.« Die Decke hatte so viel Ähnlichkeit mit dem Meer, dass ich das Gefühl hatte, tatsächlich darin zu schwimmen.
    »Du hast so vieles verpasst, das liegt an deinem Vater«, sagte Peter und schüttelte den Kopf. »Ich würde das gerne ändern. Irgendwann fahre ich mit dir nach Bear Mountain. Vielleicht mit dem Motorrad. Wäre das nicht romantisch?«
    »Ja«, sagte ich und starrte unter die Decke.
    Peter rieb meine Schultern und sagte: »Margaux, sag mal: Kannst du hier irgendetwas entdecken, die geringste Kleinigkeit, die dich nicht automatisch beruhigt und entspannt? Weißt du, ich habe manchmal Panikanfälle, dann wache ich frühmorgens auf, und mein Herz schlägt ganz schnell, und ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Die Bilder helfen mir zu entspannen, denn darauf sind nur Kinder zu sehen, und Kinder sind unschuldig und sorglos. Wenn ich in lachende Kindergesichter sehe, vergesse ich meine Traurigkeit.«
    Zwischen den Fotografien hingen mehrere Gemälde von altmodischen Mädchen mit Pausbacken, gepudertem Gesicht und Ringellöckchen. Peter ging herum und zeigte mir alles. Auf kleinen Holzvorsprüngen in der Wand standen Mädchenfiguren; Peter sagte, einige wären aus Majolika, einem besonderen Porzellan. Ein Mädchen mit blonden Ringeln und einem langen weißen Nachthemd hielt die Hand vor den Mund, um einen Luftkuss zu verschicken; ein anderes Mädchen, barfuß und in Bauernkleidung, hütete Schafe.
    Ich war benommen, als befände ich mich in einer anderen Welt. Um das Gefühl loszuwerden, sagte ich: »Machst du immer dein Bett?«
    »Tja, bei der Air Force lernt man so was, und das wird man nie wieder richtig los. Wie bei deinem Vater. Er war bei der Armee, stimmt’s? Leider hat er alles, was er gelernt hat, übertrieben.« Peter hielt inne, um sich eine King 100 anzuzünden. »Ich meine, in gewisser Weise kann ich deinen Vater verstehen. Es ist wichtig, Ordnung zu halten, anders als Richard, der seine Klamotten überall herumliegen lässt, wenn er hier schläft; und dann seine verfluchten Zigarettenkippen. Er schafft es einfach nicht, sie in den Mülleimer zu tun. Letztens hat er sie in die Spüle geworfen! Dein Vater würde niemals mit ihm zurechtkommen, er würde ihn wahrscheinlich nach einer Minute erschießen. Nun, ich muss zugeben, dass ich ein bisschen Regelmäßigkeit im Leben durchaus mag. Damit geht es mir einfach besser. Inès sagt, jedes Mal, wenn wir essen gehen, würde ich dasselbe bestellen: Schmorfleisch, Kartoffelpüree mit Sauce und grüne Bohnen …«
    Peter ging zu dem Bild, das über seinem Bett hing, rechts daneben ein Glaskasten voller Pflanzen. »Ah, jetzt ist es dir aufgefallen? Wenn man dieses Bild einmal angesehen hat, kann man nicht mehr damit aufhören. Das ist der Curiosity Shop von Norman Rockwell«, erklärte er.
    »Siehst du, dass man auf den ersten Blick meint, ein Mädchen würde bei einem Ladenbesitzer eine Puppe kaufen? Aber dann merkt man, dass die Puppen keine Puppengesichter haben, sie haben das Gesicht des Ladenbesitzers.«
    »Oh, ja … gruselig …« Der Ladenbesitzer hatte ein runzliges Gesicht und graue Haare, die bei ihm normal aussahen, aber an den beiden Püppchen grotesk wirkten.
    »Ja, wenn man nur einen kurzen Blick auf das Bild wirft, sieht alles ganz normal aus, aber dann, wenn man es näher betrachtet, merkt man langsam, dass nichts

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