Tiger Unter Der Stadt
draußen holen.
Sollte er einen Zettel schreiben, damit sich seine Eltern keine Sorgen machten, wenn er nicht zu den Nachrichten zu Hause
war? Es war gleich sieben, das würde er auf keinen Fall schaffen. Jonas hob vom Boden einen Comic auf und schrieb mit Filzstift
auf das Deckblatt:
Muss noch was Wichtiges erledigen. Kann später werden. Fangt ruhig mit dem Abendessen an.
Jonas
Unter dieser Nachricht war ein Superheld zu sehen, der gerade einen Superschurken durch die Luft wirbelte. ›Kommt fast hin‹,
dachte Jonas, ›nur dass wir zu zweit sind, und unser Gegner ist der unsichtbare Mister Mief.‹ Grinsend stellte Jonas seinen
Stuhl in die Mitte des Zimmers und legte die Nachricht auf die Sitzfläche.
Das würde Ärger geben. Aber was sollte er machen? Eine Ausrede würde er sich überlegen, wenn er zurückkäme. Vielleicht käme
er ja gar nicht zurück … Er musste unbedingt die Schwimmwesten mitnehmen.
Jonas nahm den Rucksack, öffnete leise seine Zimmertür und schlich auf Zehenspitzen durch den Flur. In der Küche lief immer
noch der Fernseher. Die Wohnungstür quietschte, als er sie öffnete.
»Jonas?«, hörte er die heisere Stimme seines Vaters aus der Küche.
|163| »Ja!«, rief Jonas und hoffte, dass sein Vater damit zufrieden wäre.
»Komm mal her!«
Jonas überlegte kurz, ob er einfach gehen sollte, ließ dann aber den Rucksack von der Schulter gleiten und stellte ihn neben
der Tür an die Wand. Er musste jetzt ruhig bleiben.
Sein Vater saß auf seinem Platz am Küchentisch. Vor ihm standen eine leere und eine halbvolle Flasche Bier. Das konnte gut
oder schlecht sein; wenn er vor dem Abendessen mehr als eine Flasche Bier getrunken hatte, war Jonas’ Vater unberechenbarer,
aber auch weniger aufmerksam. Alt sah er aus, grau und struppig.
Erst jetzt bemerkte Jonas, dass der Fernseher abgeschaltet war und sein Vater ihm direkt ins Gesicht sah. Was war los? Sein
Vater schaute immer auf den Fernsehapparat, vor allem jetzt, am Samstagabend, wenn Fußball kam.
»Ist das Ding kaputt?«, fragte er und deutete auf den Bildschirm.
»Nein«, sagte sein Vater. »Setz dich.«
Jonas holte tief Luft und ließ sich auf einen Stuhl fallen. Die Schwimmwesten, Lippe, Tante Tiger, ihre Expedition musste
er aus seinem Kopf schieben … Er musste sich jetzt auf seinen Vater konzentrieren, ganz und gar, wie ein Boxer auf den anderen
Boxer vor der ersten Runde. Gleich würde der Ringrichter den Kampf freigeben, sie würden aufeinander zutänzeln, und dann käme
der erste Schlag …
|164| »Geht’s dir gut?«
Sein Vater kratzte sich bei dieser Frage am Kopf. Dabei rutschte die Taucheruhr klirrend ein Stück nach unten. Schrumpften
jetzt schon die Handgelenke seines Vaters?
»Alles klar, Papa«, sagte Jonas. »Wieso fragst du?«
»Du erzählst so wenig in letzter Zeit.«
»Ist nix los«, antwortete Jonas und überlegte immer noch, warum er hier saß.
»Die Hitze«, murmelte sein Vater. »Das ist die Hitze, die lähmt alles, da kann ja nix passieren. Bis dann ein einziger kleiner
Funke alles in Brand setzt. Dann ist nichts mehr zu retten. Ich kenn das, hab es oft erlebt …«
Oh nein! Jetzt fing er mit seinen Feuerwehrgeschichten an.
»Aber das erzähl ich dir wann anders«, fuhr sein Vater fort. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht. »Ich wollte was anderes
mit dir besprechen.«
Jonas schwieg. ›Deckung hoch‹, dachte er, ›pass auf!‹
»Was ist eigentlich mit Vera los? Sie benimmt sich so komisch in letzter Zeit. Manchmal trällert sie vor sich hin, manchmal
sitzt sie da, als ob sie bewusstlos wäre. Und plötzlich, aus heiterem Himmel platzt sie vor Wut, nur weil ich frage, was sie
heute noch vorhat. Und dir macht sie auch das Leben schwer. Ich hab das schon gemerkt, auch wenn ich immer hier rumsitze.«
Jonas sah seinen Vater an; gebeugt mit hängenden |165| Schultern saß er da. Wie ein Feuer, das langsam ausging, fand Jonas, nur seine Augen glommen noch. Obwohl er bestimmt mehr
als dreißig Jahre jünger war, kam er Jonas viel älter vor als Tante Tiger. Und das lag nicht am Aussehen. Beide, Tante Tiger
und sein Vater, saßen die meiste Zeit in ihrer Höhle – aber sein Vater wollte gar nicht mehr hinaus, er war nicht mehr unternehmungslustig.
Das war bei Tante Tiger inzwischen anders; sie genoss ihre nächtlichen Streifzüge. Altsein hatte also nichts mit dem Alter
zu tun, dachte Jonas, aber vielleicht mit dem Körper; sein Vater hatte
Weitere Kostenlose Bücher