Tiger Unter Der Stadt
Röhre. Dort, wo er gewesen sein musste, ragte jetzt
ein dichtes Geflecht aus Gittern und Eisenstangen nach oben. »Da kommt sie nie mehr raus!« Jonas musste brüllen, damit Lippe
ihn verstand. Mit Mühe konnte er ein schwarzes Loch hinter dem Eisengeflecht entdecken. Die Abwasserröhre. Irgendwo da drinnen
kauerte Tante Tiger und presste sich die Tatzen auf die Ohren.
»Lass uns verschwinden!«, schrie Lippe ihm ins Ohr zurück. Jonas nickte. In dem kalten Licht der Scheinwerfer glichen ihre
Gesichter verwaschenen Taschentüchern.
Sie zogen sich vom Rand der Baugrube zurück und trotteten schweigend ein Stück die neue Teerstraße entlang, die von der Baugrube
in die Siedlung führte. Als sie den Gully erreichten, durch den Jonas vor zwei Wochen in die Kanalisation gestiegen war, spürte
er wieder die eiskalten Krampen in seinen Händen. Er blieb stehen. »Wir müssen sofort da runter.«
»Nicht sofort.« Lippes Augen waren weit geöffnet und glänzten. »Tante Tiger muss noch ein bisschen warten.«
»Spinnst du?«, sagte Jonas. »Ihr platzt da unten der Kopf vor Lärm. Und sie kann nicht raus.«
»Mann, Nase, genau das ist unsere Chance.« Lippe schüttelte seine Locken. »Aus dem Lärm gibt es nur einen Weg: durch den großen
Abwasserkanal, aus dem wir sie gefischt haben. Und der fließt direkt ins Klärwerk!« Er stockte. »Also, ähm, wohin sonst?«
|160| Jonas sah seinen Freund an. Die schwarzen Haare standen in alle Richtungen, die Augen funkelten. Damals war es auch Lippes
Idee gewesen, in die Kanalisation zu steigen. Dort war ihnen der Tiger ins Netz gegangen, und die Tage mit Tante Tiger waren
das Beste, was Jonas je erlebt hatte. Noch nie hatte sich so viel so schnell verändert, war das Leben in der Siedlung so überraschend
und aufregend … Lippes Ideen waren einfach deswegen gut, weil die Folgen unberechenbar waren. Trotzdem war Vorsicht angebracht.
»Wie soll Tante Tiger denn durch den großen Kanal? Das Sims ist viel zu schmal für sie.«
»Auf dem Wasser«, sagte Lippe triumphierend. »Und deswegen muss sie noch ein bisschen schmoren, weil wir zuerst nach Hause
gehen, um die Ausrüstung zu besorgen. Ich hab schon eine Idee. Mann, Nase!« Er fing an zu zappeln und zu fuchteln. »Das wird
eine verdammt schwierige Expedition: auf dem stinkenden Strom ins Herz der ganzen Scheiße!«
Jonas musste grinsen, obwohl ihm schon flau wurde, wenn er nur an die Kanalisation dachte. Aber ihm war auch sofort etwas
eingefallen, das er unbedingt noch holen musste: die Rettungswesten. Hoffentlich hatte sie sein Vater nicht in die Feuerwache
zurückgebracht. Jonas hatte keine Lust, in der Kloake zu ertrinken.
»Nase zu und durch«, grinste Lippe. »Spätestens in einer Stunde hier.«
Das Licht im Hausflur ging immer noch nicht.
Gut so, sah ihn niemand kommen und gehen. Jonas |161| öffnete die Tür, so leise er konnte. In der Wohnung war nichts zu hören außer dem Fernseher in der Küche. Vera war bei ihrer
Freundin und Jonas’ Mutter war heute in die Stadt zum Einkaufen gefahren; sie war bestimmt noch nicht zurück. Es war also
nur der Vater da. Jonas ging leise in sein Zimmer. Diesmal würde er sich besser vorbereiten. Das hieß: dunkle Kleidung, die
er hinterher wegwerfen konnte. Jonas entschied sich trotz der Hitze für eine uralte lange Hose und ein verwaschenes schwarzes
Kapuzenshirt, auf das ein roter Boxhandschuh gedruckt war,
Beat it!
stand darunter. Die blauen Fransenschuhe mit den Herzen ließ er an. Wenn sie hinterher in den Müll wandern würden, wäre die
Expedition auf jeden Fall ein Erfolg. Und sonst? Nach kurzem Überlegen warf er eine Tafel Schokolade, die schon mindestens
seit einem halben Jahr unter dem Bett lag, in den Rucksack. Außerdem ein Stück Gewürzseife, das er von seiner Oma geschenkt
bekommen hatte. »Das ist was für Männer«, hatte sie gesagt. »Dein Opa hat immer so gerochen.«
Jonas mochte den Geruch nicht, aber vielleicht war es ja mal von Vorteil, wie der eigene Opa zu riechen, und ein Stück Seife
konnte bei dieser Unternehmung auf keinen Fall schaden.
Das Wichtigste war natürlich die Taschenlampe. Zu seinem Schreck musste Jonas feststellen, dass die Batterien fast leer waren.
Das Glühbirnchen war nur noch ein trüber Punkt. Pech, er konnte das jetzt nicht ändern. Die Brechstange, um den Gullydeckel
aus der Fassung zu hebeln, und die Rettungswesten lagen |162| im Keller. Er würde sie auf dem Weg nach
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