Tiger Unter Der Stadt
muss.«
»Quatsch«, warf Jonas ein und drehte sich auf den Bauch. »Sie erzählt es dem Schweine-Igor, und der verkauft uns nichts mehr,
oder sie petzt es doch noch, und dann weiß ich nicht, was passiert.«
Jonas hatte Vera seit dem Kampf nicht gesehen, sie |156| schien aber zu Hause nichts erzählt zu haben. Jonas’ Mutter hatte lediglich erwähnt, dass Vera heute bei einer Freundin bleiben
würde. Je länger sie weg war, desto besser, fand Jonas. Aber irgendwann würde sie zurückkommen …
Er schob die unangenehmen Gedanken zur Seite. Lippe zog jetzt ein tiefernstes und vor allem längliches Gesicht. »Es wird eng
und enger, Nase. Wir sind umzingelt von Vampirvipern, Schweinsköpfen und Drahtflechtern. Wir müssen unbedingt rauskriegen,
was der Schlittenfahrer damit gemeint hat.
Die Drahtflechter
… Bist du sicher, dass du das richtig verstanden hast?«
»Nein. Aber vor allem müssen wir Tante Tiger dazu kriegen, dass sie mit zum Klärwerk kommt. Wir können sie ja nicht wegtragen.«
»Aber wir könnten sie betäuben und mit einem Boot durch die Kanalisation abtransportieren. Und zwar zum Klärwerk, da küsst
sie der Klärwerksfrosch wach, und sie ist wieder ein Mensch.«
»Oh Mann, Lippe!«, stöhnte Jonas. »Wie sollen wir sie denn betäuben? Indem wir ihr Schlafmittel ins Steak schütten?«
»Keine schlechte Idee«, sagte Lippe.
»Großartig!«, rief Jonas. »Und dann rollen wir sie mit dem Omawägelchen durch die Röhre.«
»Hmmm …« Lippe kniff die Augen zusammen. »Da fällt uns schon noch was ein.«
»Wir müssen sie überreden«, sagte Jonas. »Ich hab nur keine Ahnung, wie.«
|157| »Ja, wir müssen sie weichkochen …« Lippes Gesicht glich einem Acker, tiefe Furchen durchzogen die Stirn.
Sie verabredeten sich für den Abend an der Baugrube, um Tante Tiger gemeinsam ins Gewissen zu reden. So lange, bis sie nachgeben
würde. Kein aussichtsreicher Plan, wie Jonas fand, aber einen besseren hatten sie nicht.
Noch bevor sie etwas sahen, hörten sie den Lärm. Das waren keine Bagger oder Raupenfahrzeuge, die gemütlich in der Erde buddelten.
Das war größer. Ein ohrenbetäubendes Rumpeln erfüllte die Luft, gleichzeitig war ein Brummen zu hören, das sich wie ein Bohrer
in den Kopf drehte.
Jonas und Lippe sahen sich an. Ohne ein Wort rannten sie los.
Keuchend erreichten sie den Rand der Baugrube. Mit offenem Mund standen sie da und staunten über das, was sie sahen.
Die Baugrube war von grellen Scheinwerfern ausgeleuchtet. Am Boden der Grube wimmelte es von Männern in schwarzer Arbeitskleidung.
Die meisten trugen Handschuhe. Sie mussten ungeheuer schwitzen, die Hitze lag wie eine schwere Platte über der Grube. Die
Gittermatten standen nicht mehr in Stapeln herum, sondern lagen auf dem Boden verteilt. Manche waren mithilfe der Eisenstangen
zu Wänden oder Säulen aufgerichtet, die wiederum mit Brettern verschalt wurden. Überall waren Männer damit beschäftigt, |158| Gitter und Stangen miteinander zu verflechten oder mit dünnen Drähten zusammenzubinden.
»Die Drahtflechter«, flüsterte Lippe.
Das Ungeheuerlichste war aber ein bewegliches Rohr, das wie ein riesiger Elefantenrüssel über der Baustelle baumelte. Es war
an einem Teleskoparm befestigt, der auf einem Tieflader stand; so konnte das Rohr über jede Stelle der Baustelle geschwenkt
werden. Aus der Rohröffnung quoll eine zähflüssige graue Masse in eine rechteckige Fläche, die mit Metallgittern bedeckt war.
Die Gitter wurden einfach verschluckt.
»Beton«, flüsterte Jonas. »Sie fangen an, alles mit Beton auszugießen.«
Schweigend starrten die Jungen in die Grube hinunter. Es war gespenstisch. Der flüssige Beton und die Arbeiter schienen sich
vollkommen lautlos zu bewegen, weil das ungeheure Rumpeln jedes andere Geräusch übertönte. Dieses Rumpeln musste von der Maschine
kommen, die den Zement durch den Rüssel pumpte. Dazu noch das unterschwellige Brummen von den Lastwagen, die den Beton in
großen eiförmigen Behältern drehten und flüssig hielten. Sie standen in einer langen Schlange die Auffahrt hinunter. Sobald
ein Betonmischer leer gepumpt war, rückte der nächste nach.
Unheimlich, dachte Jonas, abends, bei Scheinwerferlicht sah es aus, als ob sie hier heimlich bauen würden. Kein Hochhaus,
sondern ein Gebilde nur aus Beton und Eisenstangen; ohne Türen, ohne Fenster … ein Gefängnis.
|159| Jonas suchte mit den Augen nach dem Bretterverschlag vor Tante Tigers
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